Geschichte findet dann statt, wenn sich ein kollektives Bewusstsein verändert hat und in Handlungen sichtbar wird. Eindruckvollstes Beispiel: die gewaltlose Revolution in der DDR und der Fall der Mauer 1989. Hier setzt Menasse das Ende der Nachkriegsordnung an. Von diesem Punkt aus können er und seine Generation, der ich mich zurechne, das erste Mal auf das seit 1949 Vergangene zurückblicken.
Zuvor steckten wir mittendrin, bestimmt durch die Erzählungen aus Nazideutschland und Krieg, betäubt durch die Verdrängungsschönfärberei der Überlebenden, durchgeschüttelt vom Gedankengut der 68er und erstickt im eingdeutschten American Way of Life und seinem Konsumzwang. In all das wurden wir hineingeboren und bekamen den Blick nicht frei, so viel wir auch analysierten.
»Weißt du, wo ich mich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 befand? […] Ich saß vor dem Fernsehapparat und konnte mich nicht losreißen von diesen Bildern, die den massenhaften Triumpf des Individuums zeigten. Der Sturm der Berliner Mauer. […] Eine Masse, aber das ist das falsche Wort, ein Gesicht, das massenhaft das Gesicht jedes befreiten Menschen wurde, ein Gesicht, das Ja gesagt hatte, weil es sich zu einer Zukunft entschlossen hatte, stöhnte und weinte. Es war meine Hochzeitsnacht.« (Menasse, Ikjs 126)
Menasses Buch macht klar, was Erzählungen leisten können: Sie erzeugen ein Geschichtsbewusstsein. Auch wenn sie uns oft in der Vergangenheit festhalten, so eröffnen sie doch eine Perspektive in eine mögliche Zukunft. Im Abgleich der Gedächtnisinhalte machen wir die Zukunft zu einem gemeinsamen Ereignis, durch humorvolle Behandlung zu einem erträglichen.
Robert Menasse
Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung
Suhrkamp
« Lernende Erzieher – Lichtgestalten im Dialog »
[…] in der Gesellschaft dennoch Denken und Sinne öffnen, der Dialog zweier Dichter und Denker oder die Erzählung, in der Geschichte zu einem gemeinsamen und reflektierten Ereignis […]
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