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Hirn denkt sich selbst

Die Bedeutung der Neurowissenschaften steigt, das Hirn versucht, in sich selbst zu blicken. Dabei lernen hoffentlich auch die Naturwissenschaften das „Ich-Sagen“.

Mechanischer Kopf von Raoul Hausmann, 1919, Foto: urb

Mechanischer Kopf von Raoul Hausmann, 1919, Foto: urb

Gewagte These, gebe ich zu, aber es ist zu bemerken, wie sich im interdisziplinären neurowissenschaftlichen Forschungsreigen die Diskurse der Natur- und Geisteswissenschaften gegenseitig erhellen. Von einer solchen Gegenseitigkeit darf man sich sehr viel für die Zukunft versprechen.

Zunächst verhärteten sich die Fronten: Die Naturwissenschaftler gefielen sich in Slogans, wie

Subjektivität ist etwas, was Hirne tun.
Bewusstsein ist ein PR-Gag des Gehirns!
Bewusstsein hat eine hohe Inkubationszeit!
Es gibt keine mentalen, sondern nur neuronale Zustände.

Diese Sätze machen Spaß, weil sie die transzendentalen Ansprüche der Philosophie vom Geist erden und sie von ihrem hohen Ross holen. Aber das taten die Naturwissenschaften nur, um sich selbst darauf zu setzen. Mit einem einfallslosen Determinismus wurden Subjektivität, Bewusstseinsleistungen und die Freiheit, nach Gründen zu handeln, diffamiert, begründet nur dadurch, weil sich Gehirnaktivität in einen Code elektrischer Signale übersetzen lässt.

Aber trotz dieser materiellen Grundbedingungen ist der Mensch kein Mechanikkopf. In seinem emergenten neuronalen Netz bleiben die Freiheitsgrade erhalten, die nötig sind, um sich ständig weiterzuentwickeln. Beim Menschen ist die Überwindung seiner genetischen Determination bereits genetisch angelegt. Sein Hirn ist ein offenes Programm, verglichen mit dem Tier, eine unendliche Fehlerschleife, die ihm seine kognitive Nische immer wieder überschreiten lässt.

Die Philosophie tut gut daran, die Befunde der Neurowissenschaften zu bewerten, ohne auf den von aller Materie unabhängigen Geist und einer absoluten Willensfreiheit zu beharren. So kann sie den Naturwissenschaften die Erste-Person-Perspektive lehren. Eine solche Philosophie des Gehirns ist in der Lage zu verdeutlichen, dass alle naturwissenschaftlichen Theorien letztlich von Gehirnen und den darin gelagerten Bewusstseinsinhalten strukturiert sind. Eine jenseits des Gehirns gelagerte Objektivität gibt es genausowenig wie einen autonomen Geist.

Dieser Beitrag wurde am Montag, 05. Oktober 2009 um 23:47 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Wissenschaft / Technik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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10 Comments »

  1. Hallo,
    angenommen, dass die objektive Realität – die Welt der Kaffeetassen Berge, Bäume und Tischlampen – überhaupt nicht existiert, zumindest nicht in der Form, die wir als gegeben halten. Könnte es sein, dass wahr ist, was Mystiker jahrhundertelang für wahr erklärt hatten, nämlich dass die Wirklichkeit eine Illusion ist, und dass die Außenwelt tatsächlich eine unermessliche in Schwingungen versetzte Symphonie aus Wellenformen darstellt, einen Frequenzbereich, der sich erst in die uns bekannte Welt verwandelt, nachdem er von unseren Sinnen aufgenommen worden ist? (die Theorie stammt von Karl Pribram, Interview in Psychology Today)
    Wäre das die Erklärung, warum das Gehirn nicht objektiv sein kann?
    LG

    Comment: Nina – 14. Oktober 2009 @ 16:21

  2. Hi Nina, das kommt ganz darauf an, was du unter objektiv verstehst. Schon sehe ich da die gute alte Ding-an-sich-Falle zuschnappen. Das Ding an sich ist eine Begriffsbildung Immanuel Kants, der damit ein Seiendes bezeichnet, welches unabhängig von der Tatsache existiert, dass es durch ein Subjekt wahrgenommen wird. Da es uns aber nicht vorstellbar ist, wie etwas ist, was außerhalb unserer Vorstellung bzw. Hirns existiert, müssen wir wohl darüber schweigen. Uns bleibt nichts als Illusion. Die ist unsere Wirklichkeit. Dass Wahrnehmung sehr viel mit Projektion und Konstruktion zu tun, beweisen die Neurowissenschaften ja inzwischen. — Beste Grüße urb

    Comment: urb – 18. Oktober 2009 @ 02:43

  3. Hi urb, die Frage wäre, woher das Gehirn den Stoff holt, aus dem es dauernd projiziert und konstruiert? Was ist z.B. mit der Intuition, mit der auch die Neurowissenschaftler Dinge zu erforschen versuchen, die außerhalb der Vorstellung liegen? Wie kann ein Gehirn, das aus materiellen Zellen besteht, das Unsichtbare erfassen und verarbeiten. Meinst du, es gibt im „Seienden“ eine allumfassende Festplatte, von der sich jedes Gehirn nach Bedarf ein passendes Programm runterladen kann, um besser funktionieren zu können? Wie lautet dann das Passwort ? Noch ein Zitat von David Bohm:
    „Die Frage lautet: Können Sie sich der Reflexhaftigkeit eines Gedankens bewusst werden – dass er ein Reflex ist … Und wir könnten sagen, solange die Reflexe sich frei verändern können, muss es eine Art Intelligenz oder Wahrnehmung geben, etwas, das ein wenig außerhalb des Reflexes liegt, das erkennen könnte, ob er stimmig ist oder nicht.“ Liebe Grüße Nina

    Comment: Nina – 22. Oktober 2009 @ 10:02

  4. Hi Nina, meinst du den Quantenphysiker Bohm? Vorab erst einmal eine Einschätzung: An allumfassende Festplatten glaube ich nicht. Schöne Vorstellung zwar, aber zu transzendentalistisch. Was ich noch nachvollziehen könnte: In Blochs „Materialismusproblem“ wird die Materie als ein unabgeschlossener Prozess dargestellt, der sich selbst organisiert. Im Grunde ein Logos der Materie, der alles was wir Bewusstsein oder Geist nennen, durch seine offene Selbstorganisation überschreiten kann. Eine auf diese Weise gedachte Materie schließt selbst den Subjektkern mit ein. Muss mal wieder nachlesen, wie das genau gedacht ist! LG urb

    Comment: urb – 22. Oktober 2009 @ 12:41

  5. Noch ein Literaturhinweis, der gut zum Thema passt:
    Thomas Metzinger: “Der Ego-Tunnel”
    Berlin Verlag, 352 Seiten
    ISBN-13: 978-3827006301
    Ein Interview mit Metzinger in der Zeit:
    http://www.zeit.de/2007/34/M-Seele-Interview
    Ein interessanter Post auf den Philosophischen Schnipseln zu den Vorurteilen gegenüber der Philosophie:
    http://oxnzeam.de/2009/10/23/journalisten-vorurteile-gegen-die-philosophie-des-geistes
    urb

    Comment: urb – 25. Oktober 2009 @ 01:05

  6. […] wichtiger Beitrag zur Zukunft der Menschheit wird von den Neurowissenschaften geliefert werden. Wie Philosophie und Naturwissenschaften in diesem Bereich auf eine neue Art und Weise zusammenspielen lernen, ist einer intensiven […]

    Pingback: Hyperbaustelle » Utopie im Oktober | Utopie-Blog – 02. November 2009 @ 07:17

  7. und was ist mit der Verschmelzung von Wissenschaft und Spiritualität?

    Comment: Nina – 03. November 2009 @ 16:44

  8. Was meinst du genau damit, Nina? Gruß urb

    Comment: urb – 04. November 2009 @ 00:51

  9. Hi
    Very nice and interesting story.

    Comment: JassiMostru – 05. Juni 2010 @ 05:38

  10. […] 7. Hirn denkt sich selbst […]

    Pingback: Hyperbaustelle » Top 10 – August 2010 | Utopie-Blog – 24. September 2010 @ 20:30

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