Aus elektronisch geschulter Perspektive würde ich Erbschaft dieser Zeit als eine Art Utopie-Blog bezeichnen. Aus vielen kleinen philosophischen Miniaturen wird das Bild einer Epoche deutlich, die sich bis heute nicht gänzlich transformiert hat. Ihr Staub hat sich nicht mit dem Untergang der Weimarer Republik, des dritten Reiches und des Kalten Krieges gelegt, sondern wurde erst jüngst durch die Finanzkrise noch einmal kräftig aufgewirbelt.
»Die Mitte merkt sich jetzt mindestens als arm. Zwar merkt sie das falsch; denn es ist verschieden, nie Geld gehabt zu haben oder sein Geld verloren zu haben. Doch zuweilen auch kommt die einzigartige Lage, dass Spießbürger das Leben erneuern wollen. Hier ist die Luft vielleicht nicht mehr so dick wie früher. Doch sie weht noch nicht, sie staubt nur.« (EdZ, 28)
Es staubte gewaltig im Bundestagswahlkampf 2009: Wir blickten in einen großen Hohlraum, aus dem es ein wenig herausechote. Es wurden nur noch ökonomische Fragen gestellt und beantwortet, weil alles andere unpassend und aufgesetzt geklungen hätte. Die Politik, aber auch die Medien verstecken sich hinter Sachlichkeit, in der nach Bloch sich nichts als Leere ausspricht, »und sie erschöpft sich im Weglassen« (EdZ 216). Von Neuem oder von sich neu zu sprechen wäre unsachlich. Dieses Neue ist dem öffentlichen Diskurs verloren gegangen wie ein alter Hut.
Dass dieser Mangel allerdings inzwischen kollektiv festgestellt wird, gibt Anlass zur Hoffnung. Im Grunde hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel geändert, nur das Bewusstsein der Leere hat sich verstärkt. Ich werte das als Ausdruck eines völlig orientierungslosen Veränderungswillens, der uns wer weiß wohin bringen kann. »All das möchte woanders sein als dort, wo es so hohl steht. … Neues spukt voraus, das ist und nicht ist.« (EdZ 229)
Den Spuk des Neuen zu erkennen, ist möglicherweise ein schwieriges Unterfangen, vor allem weil man nicht genau weiß, auf was zu achten ist. Vielleicht geistert es in den Versprechern der Politiker umher, oder in Söders Gesichtsausdruck, wenn er sich von der Kamera unbemerkt wähnt und Andrea Maria Nahles mit Mörderblick justiert. Es könnte sich aber auch in Nebensätzen offenbaren, die sich zwischen die Hauptsätze schlichten, als hätte sie niemand gesagt, als wären sie nicht nur zwischen die Zeilen, sondern auch zwischen alle Stühle gerutscht. Bei diesen Überlegungen fährt mir doch gleich wieder Bloch dazwischen, und ich hoffe, Folgendes ist nicht auf Web 2.0 und Webloging übertragbar:
»der Kleinbürger aber wird mindestens nicht mehr an Geister glauben … Füllt sich mit schönen Worten, lautem Spiel, glänzendem Unsinn; und will doch, auf dem Grund dieser Trunkenheit, nur wieder ein Haustier sein.«
Ernst Bloch
Erbschaft dieser Zeit
Suhrkamp Taschenbuch
http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Bloch
« Jazz von John – Willkommen auf der Hyperbaustelle! »
[…] Spektrum gibt es nicht sehr viel Zukunftsweisendes zu vermelden: Aber das breite Bewusstsein der Hülsenhaftigkeit der Parteistrategien ist für mich Anlass zur Hoffnung, vor allem deshalb, weil grobe Verstöße gegen die […]
Pingback: Hyperbaustelle » Utopie im Oktober | Utopie-Blog – 02. November 2009 @ 14:49
Allgemeine Antwort … Es gibt immer zu allem die konstruktive Seite. Und es gibt große Köpfe, die mit viel auch was anfangen können. Aber es gibt die Heerschar derer, die den Verlockungen und Leichtigkeiten erliegt – ohne den Preis von „viel“ bezahlen zu wollen oder zu können. Weit denken, vorausdenken, „sich entfalten“, das ist nicht mal eben geschissen. So wird das aber empfunden. Und oft propagiert. Und hinterhergeschmissen, damit sich Leute noch toller fühlen. Und so empfinde auch ich alles, was großartig zukünftig dargestellt wird, als gefährlich und im Ergebnis verschiedenenorts als destruktiv. Und erwarte weiter zunehmend Destruktives, in so einem Rahmen. Zu viel Idee, zu wenig Konkretes. Was für Denker, nichts für den Alltag, nichts für den alltäglichen Menschen, der in Illusionen, so, hier und heute, zerschmettert. Und in einem Land, das der Bürger regiert, wer sonst, da sind Parteien machtlos. Politik macht keinen Staat – schon gar nicht einen, wo das Volk der Souverän ist. Unsere Lahmarschigkeit und Verblendung – sind wir. Nicht die Politiker.
Comment: Patricia Schult – 09. März 2010 @ 10:46
@Patricia: Bin soweit einverstanden, dass das Konkrete jeder selbst beisteuern muss, ansonsten wäre es Bevormundung; auch dass die meisten Leute hier zu wenig Überblick besitzen und zu lahmarschig sind. Aber die Politiker freisprechen kann man nicht! Sie wären dafür verantwortlich. Sie sind aber bestenfalls – ein Spiegel der gesamten Bevölkerung. Jedes Land hat die Politiker, die es verdient!
urb
Comment: urb – 14. März 2010 @ 14:03