Sie steht vor mir, wirft ihre kleine Stirn in Falten und reißt die Augen auf. Man kann regelrecht sehen, was sich im Kopf meiner Tochter zusammenbraut. Sie dreht ihre rechte Hand im Kreis und ist brabbelnd auf der Suche nach Worten. Dann erzählt sie von Kindern und Spielsachen, sie wünscht sich an allerlei Orte, gibt sich andere Namen, und stellt Fragen zu Personen, die sie noch nicht einordnen kann. Ihre Aktionen sind überraschend, jeden Tag passiert etwas das erste Mal. Trotzdem kommt einem das zur Sprache Gebrachte bekannt vor. Unsere Tochter spiegelt ihre Eltern.
Sie erklärt ihrem Affen, was wir ihr erklären, sie scheint bereits zu wissen, wie wichtig es ist, jemanden genau mitzuteilen, was er nicht tun darf, worauf er aufpassen muss und was schön ist. Ich habe ein durch und durch verständiges Wesen vor mir, das die meisten Dinge freiwillig annimmt: Wird sie verstanden, versteht sie. Wird sie geliebt, liebt sie. Lachen wir mit ihr, lacht sie. Beherrschen sich die Eltern in Stresssituationen, lernt auch sie sich zu beherrschen. Schauen wir mit ihr Bücher an, stellt sie Fragen zu Bildern und Szenen. Erklären wir ihr, warum wir etwas nicht mögen, beginnt sie diese Meinung zu respektieren.
Was aber ist, wenn in dieser verletzlichen Phase nicht mit Worten und Geduld agiert wird. Man sich kann gut vorstellen, was passiert, wenn Eltern diese ersten Schritte in die Welt der Selbsterklärung mit zu viel Einmischung beschleunigen wollen oder, schlimmer noch, missachten. Es ist schon fahrlässig, nur aus Müdigkeit heraus zu verbieten oder über gewisse Dinge hinwegzusehen. Wenn ich aber als Erziehender der Meinung bin, dass mein Kind sowieso nur ein lästiges kleines Monster ist, ein Wolf unter hormoneller Duldung der großen Wölfe zu allem fähig, wird es diese Meinung auch spiegeln, ihre Rolle einüben und bis zur Perfektion aufführen. Es wird nicht lernen, sich in andere hineinzuversetzen, sondern um Aufmerksamkeit und seine Bedarfe kämpfen.
In der aktuellen Literatur hat das Tyrannen-Modell unverständlicherweise Konjunktur. Auch der 1934 erschienene Erziehungsbestseller von Johanna Haarer Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind betrachtet Kinder als solche und warnte davor, sie an Nähe und Fürsorge zu gewöhnen. In diesem nationalsozialistischen Kontext ist es leicht nachzuvollziehen, dass Erziehungsprogrammatik die ihr gemäßen Kinder zeitigt, und das Ganze wenig mit einer angeborenen Konstante zu tun hat, aufgrund derer jeder auf ein Miteinander gründende Weltentwurf zum Scheitern verurteilt ist.
Was ich sagen will und inzwischen mit eigener Erfahrung untermauern kann: Noch bevor die Kinder sich erinnern oder sprechen können, entscheidet sich, ob sie demokratische Wesen im positiven Sinne werden können. Dabei kommt es zunächst weniger auf konkrete Inhalte an, sondern auf eine Geste, eine vermittelte Einstellung. Es geht nicht darum, ein Erziehungsprogramm durchzuziehen, sondern einfach nur Empathie und das Akzeptieren von Regeln vorzuleben. Eine Habermassche Diskursethik funktioniert in unserer Gesellschaft nur, wenn sie frühkindlich vorbereitet wird. Nur dann kann sie sich in den Köpfen unserer Nachkommen festsetzen und den besseren Argumenten Durchsetzungsvermögen verleihen.
Freilich hat meine Tochter, wenn sie müde ist und nicht bekommt, was sie möchte, auch Ausraster, wirft sich auf den Boden oder jammert. Sie reagiert auf etwas, mit dem sie nicht fertig wird. Aber eine Tyrannin ist sie deswegen nicht. Und von Natur aus schon gar nicht. Eine solche negative Anthropologie ist allein aus der Faulheit oder Hilflosigkeit der Erzieher geboren.
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Hallo urb, genau so ist es, man soll die Kinder mit dem Herzen erziehen und nicht irgendwelchen lieblosen Ratgebern nachgehen, die einem vorschreiben wie man mit dem Kind umgehen soll. Jede Familie hat doch einen eigenen Mikrokosmos, in dem eine Tagesordnung herrscht, bestimmte Rituale stattfinden, die den Kindern das Leben erleichtern und wenn das Kind weint, sollte es einfach liebevoll beruhigt werden, aus dem Herzen heraus und ohne darüber nachzudenken, ob der Ratgeber das gut oder schlecht findet. Klare, nicht starre Erziehungslinien, die man nach Bedarf mit dem Herzen korrigiert, vermeiden die Unsicherheit im Umgang mit Kindern, die, meiner Meinung nach, die Ursache der „Tyrannei“ ist. LG Nina
Comment: Nina – 30. Oktober 2009 @ 21:02
Hi Nina! Bei Goethe heißt es Herzensbildung, bei Rousseau die Kunst der Menschenbildung und die BeraterSoftSkillManipulationsElite nennt es emotionale Intelligenz. Irgendwas ist jedenfalls dran, und es entfaltet sich besonders gut, wenn man nicht drüber nachdenkt. Gruß urb
Comment: urb – 30. Oktober 2009 @ 23:59
[…] war immer eng mit Erziehung verknüpft. In diesem Zusammenhang kann ich aus meinem Alltag schöpfen und meine Rolle als […]
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