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Universalpoesie – progressiv-digital versteht sich

Die Blogosphäre ist ein kollektives, synthetisches Bewusstsein, wie ein Freund so schön sagte. Eine Praxis, die nicht von einem Standpunkt aus entworfen wurde, sondern sich vielstimmig fortschreibt. Das erinnert an romantische Universalpoesie und ist damit per se utopisch.

Der digitale Romantiker inmitten von Datenbergen und -nebeln - aber auch mit Übersicht und Durchblick!

Der digitale Romantiker inmitten von Datenbergen und -nebeln - aber auch mit Übersicht und Durchblick!

Die ganze Menschheit schreibt an einem Roman, wenn er zu Ende ist, ist auch die Menschheitsgeschichte zu Ende. Das ist eine der Botschaften, die den Fragment-Labyrinthen der Jenaer Frühromantik zu entnehmen ist. Kein Medium hat diese Vorstellung bislang mehr bedient wie das Internet, ganz besonders seine aktive Version 2.0. Alle wirken mit an einem dynamischen Geflecht, das universale Ausmaße hat und immer weiter wächst.

Die Piraten wurden von der Süddeutschen bereits als die Internet-Romantiker ausgemacht. Ja, die digitale Bohème ist eine romantische Bewegung, daran besteht überhaupt kein Zweifel. Sie pflegt wie die Romantiker die soziale Vernetzung und sieht diese Gemeinschaft als Keimzelle der Meinungsbildung und einer universal anvisierten Veränderung: der Weltpoetisierung, romantisch gesprochen. Und an dieser Stelle gibt es ein ganz entscheidendes Missverständnis auszuräumen, das Romantik wie Web 2.0 anhaftet.

Die Romantiker waren nämlich nicht daran interessiert, eine Parallelwelt aufzubauen, sondern wollten die damals profan und vulgär vernünftelnde Aufklärung poetisieren. Das heißt, die Welt des Geistes oder des Traumes sollte die sogenannte reale Welt und die Natur vollkommen durchdringen. Dabei gibt es keine Trennschranke, die zwei Sphären voneinander sondern könnte. Das zunächst polar gedachte Modell ist von Durchlässigkeit und gegenseitiger Aufhebung im positiven Sinne geprägt.

Auch im Cyberspace wird keine Parallelwelt geschaffen, sondern eine, die die reale durchdringt. Die zahlreichen Blogs beziehen ihre Fakten und Motive aus der realen Welt, verarbeiten und verbreiten sie unter gemeinschaftlichem Siegel in Social Networks und der Blogosphäre und wollen durch diese Dynamisierung und Mobilisierung am Ende auch wieder etwas in der realen Welt bewirken: dass Gesetze geändert werden, dass keine CO2-Lager errichtet werden, dass Hochschulen bessere Studienbedingungen bieten, dass bestimmte Produkte nicht mehr gekauft werden oder dass freie Meinungsäußerung und freier Zugang zu Informationen im Netz unter keinen Umständen angetastet werden darf. Vor diesem Hintergrund ist möglicherweise der Misserfolg von Second Life erklärbar: Die relative Abgeschlossenheit der Plattform macht sie nicht interessant genug für einen Massenzustrom.

Das Internet ist dabei für die Digital Residents keineswegs ein austauschbares Instrument, sondern ihr Mittelpunkt, sich zu erklären, Ideen zu finden, Meinung zu bilden und zu vernetzen, sich damit gegen die neoliberalen Machtzentren zu behaupten. Der Internetbewohner sitzt also quasi in einer semiotischen Schaltzentrale, von der aus die verschiedensten Aktionen gestartet werden können, wenn ein Gedanke das nötige Echo findet. Eine solche Schaltzentrale, in der alles miteinander in Bezug gesetzt werden kann, war für die Romantiker eben die Poesie. Und diese wollte man sich nicht von klassizistischen Vorgaben, Proportionen und Kanonisierungen reglementieren lassen. Und sie sollte auch nicht zwischen zwei Buchdeckeln eingesperrt werden, in den Marmorsaal des toten und vollkommenen Werks.

Was bezweckt also progressive Universalpoesie? Sie als Textgattung zu bezeichnen, wäre viel zu kurz gegriffen. Schaut man sich den literaturtheoretischen Begriff aus der Frühromantik an, bemerkt man, dass er nicht nur literarischen Gattungen, Philosophie, Kritik und Rhetorik umfasst, sondern auch Kunst und Wissenschaft, Traum und Wirklichkeit, Poesie und das wahre Leben in einen Wechselbezug setzen will. Auch diese Durchmischung kann man in der Blogosphäre unter jeweils individuellen und subjektiven Zuschnitt beobachten. Wie im progressiven Roman gibt es die verschiedensten neuen Aussagenweisen und Mischstile: von der Linksammlung und den 140-Zeichen-Micro-Blog, über die bereitgestellte Präsentation, Fotoerzählungen und Videoeinbettungen bis hin zu Tiraden, kritischen Essays und populärwissenschaftlichen Interpretationen.

Progressiv ist Universalpoesie, weil sie ewig im Werden ist und eine Transformation der gesamten Welt bezweckt, zu der sie, wenn nötig, auch ewig unterwegs sein will. Ihr Zielpunkt am Ende der Menschheitsgeschichte hat keine konkreten Konturen. Auch hier gibt es jede Menge Überschneidungen mit der digitalen Avantgarde, die das Social Internet zum diffusen Hoffnungsträger hat werden lassen. Entsprechend spielt das unvollendete Stück Literatur, das Fragment, eine große Rolle in den Texten beider Epochen: Und das nicht primär, weil es Ausdruck einer fragmentierten Welt ist, sondern weil es im Dialog entsteht und dieser in einer freiheitlichen Sphäre nie abgeschlossen sein kann. Das dialogische Moment des romantischen Fragments ist meines Erachtens stark unterschätzt. Die Reaktion, der Austausch ist so wichtig, dass eher auf eine perfekte Ausarbeitung verzichtet wird. Im Vordergrund steht der Gedanke und der Impuls, der auf andere überspringt.

Dieser Beitrag wurde am Samstag, 07. November 2009 um 13:39 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Literatur / Film, Medien / Web abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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1 Kommentar »

  1. […] Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts und der neuen digitalen Avantgarde festzustellen. Im Beitrag Universalpoesie – progressiv-digital versteht sich konnte ich zeigen, wie Weltveränderung von einem semiotischen Medium aus gedacht worden ist und […]

    Pingback: Hyperbaustelle » Der kritische November | Utopie-Blog – 24. September 2010 @ 01:11

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