Was sind Auswege? Plurale, unprätentiöse, unbewusste Utopien? Hoffnung, die sich unverhofft einstellt? Oder ein Potenzial des Menschen, das dann zum Tragen kommt, wenn es nötig ist? Nach Alexander Kluge sind Auswege eine Rafinesse der Elenden im Marxschen Sinne. Diese wüssten Lösungen aufgrund von Fähigkeiten, »die mit dem, was wir Kultur nennen, wenig zu tun haben«. »Unabsichtlich intelligent sein« sei die einzige Chance, den Neuerungen des 21. Jahrhunderts nicht ohnmächtig gegenüber zustehen. Dieser Form der Intelligenz hinterher zu spüren, verspricht interessant zu sein, zumal Kluge hier vage bleibt und viele Vergleiche heranzieht, die in verschiedene Richtungen zielen könnten.
Klar dürfte Folgendes sein: Richtung und Ansatzpunkt des Ausweges sind uns zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht bekannt. Sein Programm ist in keinem Kanon und keinem Lehrbuch enthalten. Der Ausweg ist nicht das Resultat einer Absicht, Analyse oder Reflexion, sondern eher ein zufälliges Produkt. Es fußt auf Bestehendem, trägt aber – wie es uns die Moderne gelehrt hat – den Charakter des Neuen, der in den bestehenden Verhältnissen und der Geschichte noch nicht enthalten war. An dieser Stelle entkoppelt sich Intelligenz von ihren bisherigen Formen und prägt eine neue Qualität aus, die eine unmittelbare Reaktion auf eine veränderte Situation ist. Bliebe sie der kausalen Hochrechnung bereits gegebener Denkungsweisen und Phänomene verhaftet, gäbe es auch keinen Ausweg aus der sich immer weiter zuspitzenden Katastrophe, etwa so, wie es Benjamin ins Bild des »Engels der Geschichte« gefasst hat.
»Er (der Engel der Geschichte) möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (Walter Benjamin)
Auswege suchen, bevor es zu einem gewaltsamen Ausbruch oder Zusammenbruch kommt, ist möglicherweise eine Sache des Spiels. Einen Ausweg suchen, heißt einen Ausbruch im Spiel vorwegnehmen, um zu sehen, womit er sich auffangen oder kanalisieren lässt. Kluge beruft sich auf Schiller, der Spielen als etwas sehr Ernstes bezeichnet hat. Ästhetische Phänomene sind von jeher dazu angetan, diese Funktion zu übernehmen. Schiller meinte vor allem das Theater als moralische Anstalt, eine Parallelwelt, in der er die höfische und bürgerliche Welt analysieren und Auswege aufzeigen konnte. Auch der Schriftsteller Raul Zelik stellte im Interview auf der Hyperbaustelle diese Funktion des Ästhetischen heraus: »Ich schreibe, weil ich dadurch mehr erfassen kann, als ich zu benennen in der Lage bin.« Also ist nach dem alten romantischen Prinzip Vorstellungskraft statt Gelehrsamkeit gefordert.
Heute ist es vor allem das Netz zur bedeutendsten Parallelwelt mit größter Reichweite geworden. Es durchdringt die so genannte wirkliche Welt und fängt an, sie zu verändern. Mit neuen Lebensentwürfen und Emanzipationspotenzialen, einem neuen Reduktionismus als Navigationshilfe, mit neuen Denkungsarten und Kommunikationsweisen, die uns noch gar nicht vollends transparent sind. In sich spaltet sich das Netz wieder in viele Welten auf: Kommerz, Überwachung, Kommunikation, soziale Vernetzung, peer production etc. Dass man ins Internet alles hineintragen kann, hält Kluge für entscheidend: Es ist ein Gefäß für viele Gefäße, worin man etwas aufbewahren kann. Seine Metapher für Portale oder Sammlungen wirkt dabei schon wie ein kleines Glücksversprechen: Gärten bauen, in denen unsere verborgenen Potenziale Gestalt werden können (der Garten wird virtuell: Der wilde Gartenblog). Und eines ist für Kluge auch ganz offensichtlich: Hier wandelt der bürgerliche Mensch, den man neu untersuchen müsste.
Ein adornitischer Satz Kluges passt besonders ins Programm der Hyperbaustelle: »Man muss begründen können, warum man nicht pessimistisch wird.« In diesem Zusammenhang beurteilt er Schirrmachers Buch »Paycheck« als ein sehr pessimistisches Buch. Ich denke, dass Schirrmachers Logik eine ist, die im Katastrophischen gefangen bleibt, weil sie den Kontrollverlust, der mit Netzwerken und großen Datenmengen einhergeht, nicht akzeptieren kann, und die Erweiterung des Möglichkeitenspektrums für jeden Einzelnen nicht anerkennen will. Die Auswege und Intelligenzformen der Netzkultur sind in ihrem Umfang noch gar nicht abzuschätzen. Feststeht, dass Öffentlichkeit mobilisiert wird; dass ein Datenboykott »eine Absage an jede Form von gesellschaftlicher Tätigkeit« wäre; und dass – begründet durch das hier Ausgeführte – das Netz unbedingt offen bleiben muss, denn jede Form von künstlich oder autoritär aufgedrückter Ordnung würde die Chancen, Auswege zu finden, minimieren.
Der Freitag:
http://www.freitag.de/kultur/0952-zukunft-netz-kluge-interview
dctp.tv:
http://www.dctp.tv/#/meinungsmacher/auswege-aus-der-gegenwart
« Generation StefanSusanne – Dezember-Bilanz? »
Hi urb, schöner Artikel! Der Engel der Geschichte ist ein echt gruseliges Geschöpf. Aber das Kluge-Interview war wirklich sehr inspirierend, auch wenn das Libellengleichnis auch nach hinten losgehen kann, schließlich lobt Kluge den taktilen Killerinstinkt der Libelle trotz stecknadelkopfgroßem Hirn. Ansonsten ist das dctp.tv-Portal eine Fundgrube interessanter Themen, ich meine auch die Interviews mit den Netz-Meinungsmachern und Topbloggern. Gruß Paul
Comment: paul – 04. Januar 2010 @ 17:06