Keinen Affront scheuen – das ist das Metier von Reich-Ranicki.
Jan Süselbeck: Wenn Theodor W. Adorno bereits in seinem Anfang der 1950er Jahre publizierten Rundfunkbeitrag „Zur Krisis der Literaturkritik“ beklagt, man könne den Literaturkritiker der Nachkriegszeit kaum noch vom verlegerischen Waschzettelschreiber – also, in heutigen Wörtern, von einem PR-Autor – unterscheiden, so ist damit in der Tat ein nach wie vor virulentes Problem gemeint.
Adorno moniert in seinem Text allerdings in erster Linie bestimmte Nachwirkungen des Nationalsozialismus auf das deutsche Feuilleton, die ihn Formen der Literaturkritik vermissen lassen, wie sie vor 1933 in der Weimarer Republik noch praktiziert wurden. Dazu heißt es in seinem Text: „Heute, nach dem Sturz der Diktatur, sind nun aber die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Literaturkritik durch den bloßen Wechsel des politischen Systems nicht wieder hergestellt. Weder gibt es jenen Typus des Publikums, der die liberalen Zeitungen las, noch die Menschen, die ihrer eigenen Beschaffenheit nach als autonom und begründet über Dichtungen Urteilende aufzutreten vermöchten. Die faschistische Autorität ist zergangen, aber übrig geblieben ist von ihr der Respekt vor einem jeglichen Bestehenden, Anerkannten und sich als bedeutsam Aufspreizenden.“ Um dann noch relativierend nachzuschieben: „Ironie, geistige Beweglichkeit, Skepsis gegen das, was nun einmal da ist, hat nie in Deutschland hoch im Kurs gestanden.“
Wenn das, im Sinne einer spezifischen deutschen Mentalität der Autoritätshörigkeit, stimmen und nach wie vor Gültigkeit haben sollte – dann wäre das natürlich auch in Zeiten, da der Markt den Inhalt der Zeitungen und namentlich der Feuilletonseiten immer mehr bestimmt, ein großes Problem für die Literaturkritik.
Literaturkritik kann nur einen Wert haben, wenn sie unabhängig und ‚ohne Rücksicht‘ auf Verluste formuliert wird. Dies sollte aber auch nicht damit verwechselt werden, aus dem Bauch heraus Werturteile zu äußern, die sich bloß auf irgendwelche persönlichen Befindlichkeiten bei der Lektüre beziehen oder gar das Für und Wider eines Buchkaufs. Also so wie es etwa die Laienkritiker bei Amazon.de in der Regel für ausreichend halten, die es außerdem kaum interessiert, dass ihre freiwillige Beteiligung an der „Content“-Ergänzung dieses Konzern-Portals ausschließlich im Sinne der Gewinnmaximierung eingesetzt wird.
Es kommt immer darauf an, in welchem Zusammenhang ein solcher zuspitzender Satz geäußert und wie er hergeleitet wird. Man sollte hier vielleicht auch weniger auf Reich-Ranickis Fernseh-Auftritte starren, sondern sich einmal wieder seine Kritiken in der „Zeit“ oder der „F.A.Z.“ ansehen, denn die waren und sind gut geschrieben. Das schließt nicht aus, dass Reich-Ranicki oft und gerne danebenhauen konnte – etwas, dass streitbare Kritiker kaum vermeiden können, die den Mut dazu haben müssen, mit ihren Urteilen auch sich selbst angreifbar zu machen.
Dass gerade Reich-Ranicki dies immer so besonders vorgeworfen wurde und man heutzutage bei Jung und Alt Augenrollen erntet, wenn man seinen Namen auch nur nennt, ist mir suspekt. Mehr noch: Ich vermute dahinter in letzter Instanz mehr oder weniger bewusste, uralte Ressentiments gegen die „zersetzende“ Kritik, die man in Deutschland bekanntlich stets und besonders gerne ‚den Juden‘ ankreidete. Vielleicht ist es da kein Zufall, dass einer der ‚lautesten‘ Polemiker gegen Reich-Ranicki, Eckhard Henscheid, 1999 eine zweifelhafte Position in der Walser-Bubis-Debatte bezog, sich in der „Jungen Freiheit“ über das „spezielle Judentabu in Deutschland“ beklagte und in dieser rechten Zeitung passenderweise auch noch Martin Walser gegen den Vorwurf verteidigte, dessen Roman „Tod eines Kritikers“ (2002) karikiere Reich-Ranicki mittels antisemitischer Klischees.
Marcel Reich-Ranicki hat sich, gerade auch was die sprachliche Form von Verrissen betrifft, um die Literaturkritik der deutschen Nachkriegszeit mehr als verdient gemacht. Da können Günter Grass, Walser und Henscheid auch noch so sehr beleidigt sein. Oder besser gesagt: Gerade dass sie es sind, zeigt, wie wichtig es war, dass es in den letzten Jahrzehnten in Deutschland jemanden wie Reich-Ranicki gab. Andererseits ist klar: Ein Feminist ist auch er nicht gerade gewesen. Das fiel mir erst dieser Tage auf, als ich zufällig seine Besprechung von Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (F.A.Z., 24. August 1974) las: Darin schreibt Reich-Ranicki, die Protagonistin, die Böll als eine Frau beschreibt, die permanent männlichen Zudringlichkeiten beziehungsweise sexuellen Belästigungen ausgesetzt ist, leide an ihrer „Frigidität“. Das ist wirklich eine haarsträubende Fehllektüre. Aber solche Misstöne waren es sicher nicht, die diesen Kritiker in Deutschland im Ansehen der Öffentlichkeit zur Karikatur des „Kritikerpapstes“ haben werden lassen.
Wir orientieren uns schon am Feuilleton der großen Tageszeitungen und teilen dies unseren Autoren auch mit. Dennoch hat literaturkritik.de einen Umfang erreicht, der zu einer viel größeren Heterogenität der Stile und Ansätze, und nicht zuletzt der Textlängen, geführt hat. Wir müssen ja zunächst einmal nicht kürzen – zumindest nicht, solange die Artikel nicht allzu umfangreich werden und in bloße Geschwätzigkeit verfallen.
Auch hier gilt: Hauptsache, die Kritiken sind unabhängig geschrieben. Während Zeitungen wie die F.A.Z gerne auch einmal Bücher eigener Mitarbeiter besprechen und loben lassen, versuchen wir solche Selbstbeweihräucherungen tunlichst zu vermeiden, weil sie nicht unserem Verständnis von Literaturkritik entsprechen.
Zum Beispiel, indem man ganz einfach keine Bücher von Autoren rezensiert, die man gut kennt. Aus einer solchen Befangenheit heraus kann man nicht unabhängig kritisieren. Im akademischen Bereich wird das allerdings oft überhaupt nicht beachtet, weil die Rezensenten glauben, es sei nichts Anrüchiges daran, ein Buch eines ehemaligen akademischen Lehrers oder befreundeten Wissenschaftlers zu besprechen. Die autoritäre Struktur der Uni-Karrierewelt legt solche gegenseitigen Protektionen wohl immer noch nahe, ohne dass diese im Sinne einer seriösen bzw. wissenschaftlichen Fachkritik nicht anders als korrupt zu nennenden Vorgehensweisen von den Autoren als problematisch erkannt würden. Hier müssen wir als Redakteure oft wie die Detektive recherchieren, um nicht irgendwelchen billigen Uni-Zitierkartellen aufzusitzen.
Im Feuilleton gelten natürlich die gleichen Regeln: Auch hier entstehen im Literaturbetrieb oft Bekanntschaften zwischen den Kritikern und jenen Schriftstellern, über die sie schreiben – manchmal nicht einmal groß kaschierte Verflechtungen, die man aufmerksam beobachten sollte, um zu begreifen, warum in bestimmten Zeitungen Kritiken so oder so ausfallen. Viel gravierender sind hier aber auch knallharte wirtschaftliche Fakten, auf die zuletzt unter anderem auch Jörg Sundermeier in der „Jungle World“ hingewiesen hat: So können Verlage etwa Druck auf Zeitungsredaktionen ausüben, indem sie damit drohen, künftig keine Anzeigen mehr zu schalten, wenn ihre Bücher dort nicht positiv besprochen werden. Das sind in der derzeitigen internationalen wirtschaftlichen Krisensituation auch der Printmedien natürlich gewichtige Argumente.
Das sind wohl die meisten – und dagegen ist ja zunächst einmal auch gar nichts einzuwenden. Schließlich müssen ja auch die Autoren von irgendetwas leben. Das Blöde ist nur, dass man einen Bestseller wie Helene Hegemanns Shooting-Debüt „Axolotl Roadkill“ nicht planen kann – sonst hätten wir alle wohl auch schon einmal schnell nebenher ein solches Buch geschrieben. Welche literarische Qualität solche Bücher haben, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Hier ist alles möglich. Bestseller müssen nicht zwangsläufig schlechte Bücher sein. Thomas Bernhards Bonmot, das Publikum wolle nur das „Allerdümmste zur Unterhaltung„, entspricht da nun wirklich nicht immer den Tatsachen. Die Welt der Literatur ist zum Glück doch etwas komplizierter.
Literaturkritiker müssen im Grunde auch gute Literaturwissenschaftler sein, um ein möglichst umfassendes Instrumentarium zur Wertung von Texten an der Hand zu haben, das es variabel zu handhaben gilt. Es geht hier nicht nur um „Stil“, sondern um Kategorien wie Intertextualität (siehe dazu etwa auch die aktuelle Debatte um Helene Hegemann), um narratologische Fragestellungen sowie – ganz wichtig – um die Kunst des Vergleichens im Rahmen möglichst großer Belesenheit.
„Stil“ ist vor allem eine relevante Größe für den Literaturkritiker selbst, der sein literaturwissenschaftliches Wissen im Feuilleton auf eine Art und Weise vermitteln sollte, die es einem größeren Publikum auf Anhieb verständlich macht. Verschwurbelte lange Sätze, modisches Akademikergeschwätz und nichtssagende Worthülsen, wie sie bisweilen ganze Dissertationen füllen, sind hier tatsächlich fehl am Platz.
Das kommt darauf an. Gute Autoren verbinden oft beides miteinander. Dass der alte Streit um das Für und Wider einer littérature engagée noch lange nicht zu Ende ist, wird gerade auch zu Zeiten der Wirtschaftskrise oder des globalen „War on Terror“ wieder deutlich.
So plädierte die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns, und zwar bereits knapp vor dem Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes, angesichts der deutschen Debatte um die „Unterschichten“, das „Prekariat“ und die „Neue Armut in Deutschland“ in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur“ (2008) für einen „Social Turn“ in der Literaturwissenschaft. Hier und da spricht man sogar schon wieder allgemein von einem „Ethical Turn“ in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften.
Auch der Erforschung der Verleugnung der Shoah und der Thematisierung des Nationalsozialismus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, einem nicht eben ‚unpolitischen‘ Feld, wird weiter große Bedeutung beigemessen. Als Beispiel einer komplexen literarischen Reaktion auf dieses weitreichende Thema, die sich vom bloßen „Geschichtenerzählen“ emanzipiert, sei Elfriede Jelineks Werk genannt. Jelinek hat etwa zuletzt in ihrem Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ (2009) scharfe Attacken auf den Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz und auf den notorisch als Vorzeigeintellektueller der Bundesrepublik hoch gelobten Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger eingebaut, um sie als Relativierer deutscher NS-Verbrechen zu brandmarken – allerdings auf relativ verschlüsselte Weise. Auch im Blick auf die mediale Verharmlosung des Irak-Kriegs hat Jelinek mit „Bambiland“ und „Babel“ (2004) wichtige postdramatische Theatertexte verfasst, die sich als kritische literarische Interventionen gegen die Allgegenwart von Propaganda verstehen lassen.
Das wäre wohl zu hoch gegriffen. Mit der Besprechung von Büchern kann man die Welt nicht verbessern, vielleicht sogar genauso wenig wie mit Gebeten. Andererseits ist die unabhängige Literaturkritik, auf die seit Goethes Zeiten so gerne geschimpft wird, wohl ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft, ihres geistigen und öffentlichen Lebens. Man darf nicht vergessen, dass es die Nationalsozialisten waren, die die Literaturkritik in Deutschland schon einmal verboten haben. Eine Literaturkritik, die die polemische Schärfe nicht scheut, wo und wie auch immer sie geäußert und publiziert wird, wird immer ein Anzeiger dafür bleiben, wie es um die intellektuelle Verfassung einer Gesellschaft bestellt ist.
« Realitätenvermittler – Das ZDF lernt Meinung »
[…] sie unabhängig und ‘ohne Rücksicht’ auf Verluste formuliert wird« und nichts und niemanden »beweihräuchert«. Ich möchte einen Aspekt ergänzen: die Abkehr vom Formalismus. Insofern kann ich […]
Pingback: Hyperbaustelle » Baustellenerwachen | Utopie-Blog – 05. Mai 2010 @ 22:37
Auch für die Literaturwissenschaft und ihre Vermittlung an Unis und Schulen nur leider allzu oft wahr: „der Respekt vor einem jeglichen Bestehenden, Anerkannten und sich als bedeutsam Aufspreizenden“ wird abverlangt und reproduziert.
Comment: Kathrin – 06. Juni 2010 @ 00:58
Hi Kathrin, es wäre schön, wenn wir sagen könnten, dass es das Problem einer weitestgehend historisch verfahrenden Wissenschaft ist, sich in Althergebrachtem zu verschanzen. Aber die Deformation oder Ausgrenzung von neuen Ansätzen ist ein Prinzip gesellschaftlicher Machtausübung und damit bereichsübergreifend.
Es ist also Zeit für eine längst überfällige Gewichtsverlagerung: Dem Bestehenden tolerant gegenüber treten, es empathisch nachvollziehen, gut – aber angesichts seiner problematischen Verfassung muss man es weder bewundern noch reproduzieren. Es braucht neue Lösungen – und da kann Anerkanntes nur noch der Auslöser einer weiterführenden Denkbewegung sein. Der Begriff „Respekt“ sei hiermit der Zeitgeschichte überantwortet. Was meinst du? Zu romantisch? Gruß urb
Comment: urb – 07. Juni 2010 @ 10:04
Gute Idee! – Oder wenigstens, wie im Grunde bei vielem: den Respekt begründen zu können, ist wichtiger, als ihn zu verspüren, und einen eingeforderten Respekt sollte man als erstes hinterfragen!
Das Erstaunen: es herrscht keine Einigkeit darüber, dass das Gegebene problematisch ist. Und doch könnte Literatur genau das Einfühlungsvermögen für diese Einsicht vermitteln (denen, für die sie nicht ohnehin tägliche Wirklichkeit ist, und die das Privileg haben zu lesen…) und sie könnte die Phantasie, sich auch anderes denken zu können, anregen. Aber dieses Potential wird, wie du schreibst, auch in diesem Bereich systematisch abgebogen. Gerade im Blick auf Vergangenes steckt ja die Möglichkeit, Fehler zu erkennen, Ideologisierungen aufzudecken, und positive Ansätze, die aufgrund gesellschaftlich-politisch-ökonomischer Verhältnisse nicht zum Tragen kamen, auch wieder aufzugreifen. – – Naja, das ist jetzt wohl wirklich sehr romantisch gedacht…. Gruß, K
Comment: Kathrin – 07. Juni 2010 @ 13:58
Genau, Kathrin, Literatur lässt einem mit Tucholsky übers eigene Zeitdorf hinaus wandern und die Relativität der Anschauungen und Meinungen begreifen. Mit Adornos Worten, den ich ansonsten persönlich für einen elitären Widerling halte: Ironie, geistige Beweglichkeit, Skepsis – das sind die Mittel, mit denen Kritik arbeiten sollte.
In diesem Zusammenhang, finde ich es gut, dass der Stilbegriff von Jan Süselbeck inhaltlich (Intertextualität, Kunst des Vergleichens) gefüllt wurde. Darüber hinaus sollte Kritik immer auch aktuelle Bezüge herausarbeiten, zu brisanten gesellschaftlichen Themen Stellung beziehen. Lassen sich diese nicht herstellen, steht für mich in Frage, ob die jeweilige Literatur überhaupt kritisiert werden sollte. Kann das ein Kritiker heute leisten, Herr Süselbeck?
Gruß Paul
Comment: paul – 07. Juni 2010 @ 14:38
[…] 4. Keine Beweihräucherungen – literaturkritik.de […]
Pingback: Hyperbaustelle » Top 10 – August 2010 | Utopie-Blog – 07. September 2010 @ 16:19