Badious Utopie ergibt sich meiner Meinung nach im Kern durch sein Festhalten an einer rational nachvollziehbaren Wahrheit, am Subjekt, durch das diese Wahrheit erfahrbar ist, und am Realen, dem in seiner reaktionären Form eine progressive Variante entgegenzusetzen ist. Das ist Aufgabe der Philosophie und ereignet sich vornehmlich auf den Feldern von Politik, Kunst, Wissenschaft und der Liebe.
Es ist ein Grundgebot der Demokratie, nichts grundlegend zu ändern, sondern sich vorher im Dialog zu verausgaben. Vor radikalen, aber letztlich notwendigen Änderungen wird gewarnt wie im Mittelalter vor der ewigen Verdammnis. Aber eine Utopie ist ohne die Passion, Einsichten in die Tat umzusetzen, tatsächlich sinnlos. Hinzukommt, dass bei einem Handlungsverzicht abstrakte Vorgänge und Automatismen mit Durchschlagskraft aufgeladen werden, die weder Wahrheit noch Subjekt stärken, sondern Profitmaximierung und Technokratie in die Hände arbeiten.
Das ist für Badiou der Grund, das Subjekt mit neuen alten Qualitäten auszustatten. Dazu ist es nötig, mit Denktraditionen frei und, fast möchte man sagen, eklektizistisch umzugehen. Nicht kopieren, was in einem Kommunikationshorizont gelten darf, sondern sich durch gezielte Gegenbewegungen aus diesem Zusammenhang lösen. Bekanntlich schlägt das scheinbar Unzeitgemäße ja oft in Aktualität um, was durch die herrschenden Diskurse zum Entstehungszeitpunkt des Umschlags nicht vorherzusehen war. Ganz im Gegenteil: Diese versuchen das bereits aufgehängte Damokles-Schwert eher zu verschleiern, obwohl seine Konturen sich bereits unter der verhängnisvollen Textilie abzeichnen.
Das mottenstichige Flickwerk, das den Status quo unserer globalen Gesellschaften rechtfertigt, ist eine Menschenrechtsphilosophie, die Alibicharakter hat. Sie kann weder als aufrichtiges Denken durchgehen, noch kann sie ihr Defizit an notwendigen Handlungen verleugnen. Nichts geht an die Wurzeln, progressive oder engagierte Kräfte helfen, Symptome zu lindern. Selbst die Politik erschöpft sich in Kommunikationsakten und hebt sich dadurch als politische Kraft auf, weil sie »eine gesellschaftliche Mengenlehre« betreibt und sich nicht den politisch-gesellschaftlichen Problemstellungen widmet.
Auf diese Weise kommt es dazu, dass das Politische nicht mehr in der Politik enthalten ist. Oder wie es Badiou ausdrückt: »Die Gemeinschaft oder das Kollektiv ist das Unbenennbare der Politik.« Der Politik müsste es darum gehen, sich von blindem Volzug und von bloßer Verwaltung zu emanzipieren. Meinungsbildung und politische Willensbildung kann in diesem Sinne nie abgeschlossen sein. Und sie kann deshalb nie von Parteien oder ähnlichen Machtapparaten ausgehen. Politik ist aus der Perspektive Badious bestenfalls in radikal-basisdemokratischen Organisationsformen zu machen. Der offene Charakter des Politischen ist im Grunde mit einer konkreten Form der Utopie identisch.
Ein Gespräch auf DRadio
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1210207/Alain Badiou: Ist Politik denkbar?
Hrsg. und übersetzt von Frank Ruda und Jan Völker
Merve Verlag, Berlin 2010
168 Seiten, 15 Euro
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