Beispiele gibt es zuhauf: »Schalten Sie auf Autopilot und seien Sie erfolgreich«, twitterte es mir neulich entgegen, und ich frage mich, ob die selbsternannte Beraterspezies eigentlich noch weiß, was sie da an Phrasen drischt. Auf Autopilot schalten – hiermit ist der Lemming beschrieben, der kritiklos dahin läuft, wo man ihn haben will. Und sei es in den Abgrund. Was ist das nur für eine Gesellschaft, wo man sich aus- und die Automatik einschalten muss, um erfolgreich zu sein? Und wie definiert sie überhaupt Erfolg?
Man wird überhäuft mit Binsenweisheiten, die einen in aller Kürze Nonsens aufkochen, aus dem man keine Hilfe ziehen, aber ein Bild unserer Gesellschaft gewinnen kann. Was ist die Quintessenz der Todsünden- und 10-Goldene-Regeln-Literatur? Genau: Verstell dich und versteck dich! Weil das, was du eigentlich bist, ist falsch und wird von niemandem gebraucht. Wenn du dich assimiliert hast, sei wie du bist! Dann kannst du dir es ja auch leisten.
Man gibt also nichts von sich selbst preis, hört seinen Kollegen zu, die aber wahrscheinlich denselben Karriereratgeber gelesen haben. Man kann sich vorstellen, welche inhaltsleeren Gespräche dabei herauskommen. Detektivisch versucht man zu ermitteln, was der Verhaltensmeridian ist, wie immer hauptsächlich eine Kleidungs- oder Körperabstandsfrage. Überzeugungen, Meinungen, Regungen, Anteilnahme, Authentizität – alles wird zugunsten einer Strategie aufgegeben, die man irgendwann einmal gegen seine Kollegen verwenden kann und die dadurch nützlich für die Karriere wird. Pfui Teufel!
Wer schon gegen die DDR als Bespitzelungsstaat gewettert hat, sollte sich vergegenwärtigen, dass unser Arbeitsleben aus einer permanenten gegenseitigen Bespitzelung und Selbstzensur besteht. Eine Entfremdungstour mit Folgen: Depressionen, Alkoholismus und Schlimmeres plagen die Überassimilierten, Zeichen dafür, dass das Anpassungsideal wie ein Stacheldrahtkorsett um uns gewickelt ist. Aber mit Widersprüchen und Problemdiskussionen können wir uns leider nicht aufhalten, wenn der Laden laufen soll.
Folgen wir also den Regeln der Karrierecoaches und verabschieden wir uns komplett von uns selbst! Per Autopilot ab in die Matrix der vollkommenen Fremdbestimmtheit, die dann wenigstens nicht mehr weh tut. Und wenn wirs gar nicht mehr aushalten, dann ab an die Costa Brava zur „Eskalation“. Hauptsache, jemand verdient noch mal richtig Geld mit unseren Notlagen. Prost!
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Die „Erfolgsberater“ und Moneycoachs für Selbständige sind ganz genauso – es nervt ungemein und auf Twitter ENTFOLGE ich alle, die mit derlei Geschwafel auffallen. („Im Gelduniversum muss deine anziehende Kraft größer sein als deine abstossende. Dann ist der Geldfluss gut intakt.“)
Entfremdung ist, wenn Geld, Macht, Status etc. vorrangige Ziele sind. Menschen opfern diesem Rattenrennen ihre unbezahlbare Lebenszeit und benerken dabei nicht einmal, dass sie total hohle Gestalten werden. Dass sie gar nichts mit sich anzufangen wissen, sondern nach bloßen Potenzialen streben: man KÖNNTE ja dann konsumieren bis zum Umfallen, und (in einer Machtposition) gebieten, was immer man mag. Real schafft man sich dabei jedoch nur das persönliche Gefängnis aus lauter neuen Zwängen, den nicht endenden Kampf um Aufstieg und ums Halten des Erreichten. Und je erfolgreicher, desto mehr Leute sägen am Stuhl…
Bedauernswerte Existenzen, wenn man davon absieht, welch immensen Schaden sie anrichten.
Comment: Claudia – 21. Oktober 2010 @ 09:51
Anmerkung zu dem Wortspiel Entfremdung – Überfremdung:
Und die Argumentation der Karriereberatung funktioniert wie die der ‚Integrationsberatung‘: wer will, kann hier ein glücklicher deutscher Anwalt, Arzt etc. werden, wenn er sich nur genügend anpasst und anstrengt. Das Märchen vom möglichen Erfolg für alle, die sich bemühen, wird gerade da immer weiter gesponnen. Mit gefährlichen Effekten auf die Selbst- und Fremdeinschätzung: „ich bin schuld an meiner Arbeitslosigkeit“, und „‚der Türke‘ ist schuld an seiner sozialen Stellung“ ebenso wie „meinen Erfolg habe ich verdient“. So kann diese Deutung des kapitalistischen Systems als Karriere-Leiter mit Aufstiegsmöglichkeiten für alle ebenso in die Verzweiflung über sich selbst wie in die arrogante Beurteilung anderer, bis hin zum scheinbar begründbaren Fremdenhass, führen.
Comment: Kathrin – 21. Oktober 2010 @ 17:03
Ja, das ist so. Leider ist es bisher nicht gelungen, das „Koan des Kapitalismus“ zu knacken – man konkurriert um mehr oder weniger bemühte Eindämmung der negativen Effekte. Was auch sonst?
Wer glaubt denn noch an irgend eine beschreibbare Alternative? Aus den Ideologien der Vergangenheit kann die jedenfalls nicht geschöpft werden (meine Meinung).
Comment: Claudia – 25. Oktober 2010 @ 01:07
Aber der Mangel einer von hier und heute aus schon ganz eindeutig beschreibbaren Alternative muss doch nicht ein für alle Mal festgeschriebene Alternativlosigkeit bedeuten. Und ein paar Knackpunkte des Kapitalismus kann man, meiner Meinung nach, sehr wohl benennen und dort anfangen ihn zu knacken….. z.B. wenn man sich erst Mal klar macht, dass er eben ganz systematisch NICHT Aufstiegsmöglichkeiten für alle bietet, wird man den sozial schlechter Gestellten oder weniger Erfolgreichen (auch sich selbst) anders beurteilen und über andere Modelle nachdenken als einfach nur noch mehr Tauglichmachen für die Konkurrenz-Wirtschaft wie eben im obigen Artikel beschrieben.
Comment: Kathrin – 25. Oktober 2010 @ 01:27
Mit Sicherheit ist die Alternative zum Kapitalismus kein System, das fertig vorliegt und nur darauf wartet, umgesetzt zu werden. Ebensowenig kann es komplett aus der Vergangenheit abgeleitet werden, zumal sich die Systeme hüben und drüben mehr glichen, als es das gängige Denken zulässt.
Beschreiben lassen sich ex negativo Ansatzpunkte, wohin sich eine Gesellschaft entwickeln sollte, damit nicht so viele Energie in sinnloser Konkurrenz und missbräuchlichen Verhaltensweisen verpufft.
Comment: urb – 25. Oktober 2010 @ 07:23
Ja, Claudia, die Coaches handeln allein dadurch schon unmoralisch, dass sie versuchen, einen komplexen Zusammenhang auf eine banale Formel zu bringen. Wer auf solche Formeln anspringt, ist feilich selbst Schuld. Aber unverantwortlich ist es, die Leute zum Narren zu halten und so zu tun, als ob es keine strukturellen Engpässe im Hintergrund gäbe. Und Karriere machen, heißt letztendlich, sich selbst – nicht nur den Kopf – an der Garderobe abgeben und seinen Astralkörper in den Aufzug schicken.
Comment: paul – 05. November 2010 @ 10:53
In diesem Zusammenhang (Kathrin: „Tauglichmachen für die Konkurrenz-Wirtschaft“) ist die neue DIW-Studien interessant: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,729202,00.html – die Mär vom Fachkräftemangel als Konkurrenzverschärfungsstrategie, damit bei größerer Auswahl an Fachkräften Gehälter gedrückt werden können.
Comment: urb – 17. November 2010 @ 12:11
@ urb: Die Studie ist interessant. Dein Argument hatte ich allerdings so knapp nicht gleich kapiert, deshalb hier nochmal, wie ich es verstehe und einleuchtend finde: die Mär wird erzählt, so dass dann viele diese Fächer studieren, also ein Überfluss entsteht, der dann wieder Gehälter drückt. – Und natürlich auch für eine gute Auswahl an Fachkräften sorgt – und für arbeitslose Ingenieure etc. gleich mit, denen man dann aber schon wieder erzählen kann, dass sie wohl nicht gut genug seien, denn eigentlich herrscht ja ein Mangel an Fachkräften.
Comment: Kathrin – 23. November 2010 @ 18:12
@Kathrin: Genau, so einfach – und doch so unglaublich, oder? Einen besonderen Geschmack bekommt das Ganze dann noch, weil die Wissenschaftler, die die Situation richtig ausgelotet und festgestellt hatten, dass man von einem Fachkräftemangel absolut nicht sprechen kann, von den Lobbys und ihrem Präsidenten wieder zurückgepfiffen wurden. Der Fassungsvergleich der Studienversionen auf Spiegel online zeigt das sehr schön.
Comment: urb – 24. November 2010 @ 00:01