Norbert Blüms Erkennungsparole „Die Rente isch sischer“ nimmt sich vor dem Hintergrund dieser ZDF-Produktion wie pure Traumtänzerei aus. Krankenhäuser lassen Patienten mit schweren Verletzung erst einmal liegen, um abzuwarten, ob sich das Problem nicht natürlich löst. Denn keiner will auf den Behandlungskosten sitzen bleiben. Die Zweiklassenmedizin heutiger Tage wird sich ausdifferzieren, wenn man ihr nicht den entsprechenden Riegel vorschiebt. Die Großmutter des Helden Tim Burdenski nimmt sich das Leben, um ihre Familie nicht mehr durch die immens anwachsenden Pflegekosten zu belasten, obwohl sie ihr ganzes Leben lang in die Pflegekasse eingezahlt hat. Die Rentenfalle schnappt also so zu, wie wir es uns eigentlich gar nicht vorstellen mögen.
Die Form des Doku-Dramas ist dem Thema absolut angemessen und passt in die Tradition des epischen Theaters. Den Machern kann man nur ein großes Lob aussprechen. Der Aufruf am Ende des Films, dass es sich nur um ein mögliches Szenario handelt, das anders ausschauen kann, wenn die Weichen anders gestellt werden, zeigt, dass selbst im Lerchenbergghetto die Zeichen der Zeit erkannt wurden. Trotzdem gerät die Rolle der Fernsehjournalistin Lena Bachmann zur Farce: Ein bisschen weniger Selbststilisierung stände dir besser zu Gesicht, liebes ZDF, eine Erwähnung der Maulkörbe, die die Presse im Überwachungsstaat von morgen vermutlich verpasst bekommen wird, wäre authentischer gewesen. Demografie-Krimi, hüstel …
Auch die Schlusssituation könnte man als Versuch deuten, großbügerliche Wohlstands- und Sicherheitsfantasien zu reinstallieren. Nach dem Tod seiner Frau und der unerwarteten Gnade des Staats gegenüber seiner Hacker-Eskapade kann Tim zur erfolgreichen und begüterten „Milleniumskinderfreundschaft“ Sophie Schäfer zurückkehren, die ohnehin über allem schwebt wie ein weiblicher deus ex machina. Das Open-End legt eine solche Option nahe. Die Aufständischen werden demgegenüber merkwürdig distanziert, ohne echte Parteinahme betrachtet, obwohl die Mehrzahl von uns 2030 völlig mittellos auf dieser Seite stehen dürfte.
Als Fazit kann ich für den „Aufstand der Jungen“ festhalten: Gelungene Hochrechnung und Inszenierung vorhandender Tendenzen, ohne den Schleier des Schicksals vollends zu lüften. Es handelt sich bei dem Szenario ja nicht nur um die „möglichen Folgen des demografischen Wandels aus der Sicht der jungen Generation“, wie es im Teaser der ZDF-Themenseite heißt, sondern um sozialpolitische Fehlleistungen, die sich beispielsweise eine schwarz-gelbe Regierung als zukunftssichernd auf die Fahnen schreibt. Es handelt sich um die Folgen einer Politik, die es befördert, dass Eliten und die Mehrheit der Bevölkerung sich in Parallelwelten bewegen. Das muss verhindert werden.
Das „Hoffnungstal„, ein Zusammenschluss von aus der Gesellschaft Ausgestoßener, entsteht in der Doku-Fiction durch die Initiative Einzelner. Nicht umsonst wird Gründer und Krankenpfleger Vincent Fischer mit Robin Hood verglichen. Illegal im eigenen Land zu leben, durch Nachbarschaftshilfe und Eigeninitiative den nicht mehr funktionierenden Sozialstaat ersetzen, das kann letztlich nur in den Aufstand und die Rebellion führen. Vielleicht dreht nach dem „Aufstand der Alten“ und dem der „Jungen“ das ZDF ein drittes Projekt? Das Szenario eines gelingenden Zusammenlebens. Wir werden sehen … mit dem Zweiten hoffentlich besser.
Schaut euch auch an:
www.zdf.de
2030 – Aufstand der Jungen
Themenseite
Interaktive Darstellung in der Mediathek
Video Aufstand der Jungen
Video Aufstand der Alten
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Sehr gut gemachte Sendung, war spannend und sehr informativ! Auch die ganzen Begleitmaterialien im Internet sind sehr hilfreich, einen Überblick über die sozialen Brennpunkte zu bekommen. Am niederschmetterndsten fand ich die Aussagen zum Bildungssektor: Trotz Kampagne der Ministerien, ist klar, dass immer mehr an der Ausbildung der breiten Masse gespart wird. Wer sich private Förderung nicht leisten kann, fällt deshalb letztendlich durchs soziale Netz.
Comment: paul – 13. Januar 2011 @ 17:21
Ein interessanter Tip! – Und doch muss ich vor allem urbs Kritik an der Figur der schönen, moralisch guten, reichen Sauberfrau zustimmen. Die Illegalen sind schmutzig, irgendwie gefährlich und beängstigend; Rettung ist nur zu erwarten von einer Rückkehr zu eben dem Staat, verkörpert durch die hübsche Anwältin (der Wahrheit), der doch eigentlich kritisiert wird. So kommts mir vor wie ein Beitrag zur Alternativlosigkeit: das bescheidene Plädoyer für ein bisschen weniger Ungleichheit – aber bitte nichts gegen die Reichen und Schönen sagen und keine Frage nach den Ursachen der Entstehung einer immer größeren sozialen Kluft stellen – nur ein bärtiger ungelenker Illegaler darf das Wort Kapitalismus in den Mund nehmen. Hätte man selbst im ZDF nicht wenigstens so viel Utopie wagen können, dass die gute Dame mit ihren Mitteln zu der Gemeinschaft der Illegalen, dem Hoffnungstal, überläuft?
Comment: Kathrin – 28. Januar 2011 @ 23:19
Schön, Kathrin, dass du das genauso siehst. Als wären wir, die Zuschauer des ZDF, auch 2030 immer noch in der Lage, dem Geschehen aus gesicherter Warte zuzuschauen. Das ZDF selbst ist eine Grenze zur Welt, niemals in die Gemengelage eingebunden. Seriöse, neutrale Berichterstattung bis zum Weltuntergang, das ist das Versprechen vom Lerchenberg, das uns en passant mit durchgereicht wird. Und der Euphemismus „Demografie-Krimi“ verweist auf eine schicksalhafte Konstellation, als wäre nichts am Bestehenden zu ändern. Durch journalistische Neutralität sicher nicht!
Comment: urb – 29. Januar 2011 @ 16:07
[…] wird, dass immer mehr Menschen aus diesem System herausfallen werden. Wie die ZDF-Produktion »Aufstand der Jungen« zeigte. Und die Politik autorisiert ihr unkreatives Verwalten von an sie herangetragenen […]
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