Hyperbaustelle

Herbstlicher Hypertext

Die Hyperbaustelle ist im Herbst umgezogen, wie die Betreiber. Die Menge der Beiträge ging deshalb zurück, die Zugriffsstatistik aber weiter nach oben. Der erste Rückblick seit Juli umfasst philosophische An- und politische Erregungen. Und ein sich immer besser auch in Kommentaren entfaltendes Tagebuch 2110.

Tim Berners-Lee

1989 schlug Tim Berners-Lee seinem Arbeitgeber CERN ein Projekt vor, das auf dem Prinzip des Hypertexts beruhte und den weltweiten Austausch sowie die Aktualisierung von Informationen zwischen Wissenschaftlern vereinfachen sollte. Hieraus entstand das WWW.

Der Schriftsteller, Jazztrompeter und Ingenieur Boris Vian nannte Science Fiction eine „Poesie des Epischen“. Diese Bezeichnung würde ich gerne auch für das Tagebuch 2110 geltend machen, das unter der gleichnamigen Rubrik, ehemals „Gedankenspiel“, zu finden ist. Die einzelnen kurzen Texte haben etwas Poetisches, denn ihre Deutungsmöglichkeiten erschließen sich nach und nach; sie erfinden Lösungen und Auswirkungen vorhandener Tendenzen. So können aktuelle Ereignisse mit Verfremdungseffekt rückblickend betrachtet werden – eine Perspektivik, die dem Denken des Noch-nicht (utopisches Denken nach Bloch) eine reale Qualität verleiht.

Also bitte unbedingt das Tagebuch lesen und eure Meinung als Kommentar zurücklassen. Die Top Ten des Tagenbuchs seien als Anreiz genannt, sie haben sich vorne und hinten inzwischen etwas verändert: Am meisten wurde inzwischen auf Ruinen zugegriffen, Aqua Babel hat Partyholoschizophrenie auf Platz 10 verdrängt.

Was kann das Netz, Herr Berners-Lee?

Die Diskussion bei »Entlobbyfizierung« warf wieder einmal die Frage auf: Kann das Netz Demokratie aufbauen und sichern helfen? Paul und Kathrin haben es ein wenig mit der Angst zu tun bekommen, es würde nur ein bisschen Demokratiematrix gespielt. Die Entscheidungen aber würden an anderer Stelle getroffen.

Die Utopie des Hypertexts, seine in die Tiefe gehenden, kreativen Vernetzungen, wie sie in Pionierzeiten beschworen wurden, gehören größtenteils der Vergangenheit an. Sie sind inhaltsarmen, ergonomischen und kommerziellen Strukturen gewichen. Tim Berners-Lee, der Erfinder des Word Wide Webs, warnte in diesem Sinne vor Facebooks Datenmonopol, weil Informationen wie in einem Silo getrennt vom übrigen Netz gehalten würden. Das entspräche nicht der Konzeption des WWW als einem »universellen, verbundenen Informationssystem«. So könne keine Netzneutralität mehr gewährleistet werden.

Philosophische Anregungen

Oscar Negt und Slavoy Zizek nehmen beide ein kritische Haltung dem Kapitalismus gegenüber ein. Mögen die beiden Positionen auch noch so unterschiedlich sein, sie zeigen die moderenen Gesellschaften bis zum Zerreißen gespannt. Die derzeitige Wirklichkeitsspaltung besteht für Negt darin, dass die subjektiven Orientierungen der Menschen und das öffentliche System der staatlichen Institutionen bzw. die Logiken der Wirtschaft vollkommen auseinander driften. Für Zizek ist die globale liberale Weltgemeinschaft ein rigides Ungleichheitssystem, das nicht nur politisch, sondern mittlerweile auch ökonomisch gescheitert ist.

Zu den subjektiven Orientierungen und Versuchen, ästhetische Lösungen zu finden, gab es zwei Beiträge auf der Hyperbaustelle: Voraustasten in die Zukunft kann man sich am besten im Spiel, auch wenn es sich mit bereits historischen Formen beschäftigt: Guillaume Reymond gewinnt in seinem Videos die menschliche Qualität des Computerspiels zurück. Philip K. Dicks »A Scanner Darkly« enthält eine Gesellschaftkritik, die den fatalen Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Drogenkonsum reflektiert: Der Versuch, aus der Schizophrenie der Gesellschaft auszubrechen, vergrößert diese auf der persönlichen Ebene.

Politische Erregungen

Zu bestimmten Themen kann man letztlich nicht schweigen, auch wenn man es sich eigentlich vorgenommen hat:  Die auch den Cyberspace verunreinigende Karriereberaterspezies mit ihren geheiligten Selbstverleumdungsstrategien erbosten mich ebenso wie die Integrationsdiskussion rund um Herrn S. Zudem habe ich mich als Fan von Stefan Pigors kreativen Erregungen geoutet. »Nieder mit IT« hämmert es uns in die Hirne, wie wir uns von einem Herrschaftsdiskurs seit den 90ern knechten lassen.

Die vorherigen Monate im Überblick

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 01. Dezember 2010 um 10:31 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Über das Blog abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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4 Comments »

  1. Schön, dass du auf meinen Kommentar eingegangen bist! Aber Angst ist doch etwas übertireben, auch wenn es bislang noch so ist: Das Netz ist der Versuch, Schritt zu halten mit den Informationen, die man nicht bekommt – etwas überspitzt ausgedrückt, versteht sich.

    Comment: paul – 02. Dezember 2010 @ 11:30

  2. Vielen Dank für die Erinnerung – vor allem an den Beitrag über Zizek – er scheint meiner Angst – bezogen auf das Gesamtsystem, nicht das Netz – recht zu geben…
    Angst? – Erkenntnis! 🙂

    Comment: Kathrin – 03. Dezember 2010 @ 02:04

  3. Salopp formuliert, Erkenntnis richtig, Angst nehme ich zurück! Grüße urb

    Comment: urb – 04. Dezember 2010 @ 11:44

  4. […] Herbstlicher Hypertext […]

    Pingback: Hyperbaustelle » Ökonomiediskussion im Januar | Utopie-Blog – 07. Februar 2011 @ 11:39

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