Zugegegeben, ich hänge nicht besonders an der Vorstellung eines autonomen Ichs, an unbeweisbaren Aussagen zu der Existenz Gottes oder der Seele. Trotzdem frage ich mich, warum man an Stelle der Theologie den Neurowissenschaften und ihrem teilweise vulgärem Materialismus Glauben schenken sollte. Nur weil sie momentan den Herrschaftsdiskurs schlechthin liefern? Weil sie uns Sachverhalte erklären, die wir längst kennen? Weil sie wissenschaftliche Vorurteile durch bildgebende Verfahren absegnen? Ohne auch nur einen Bruchteil der Inhalte unseres Gehirns zu erfassen.
So predigen uns die Neurowissenschaften Enthaltsamkeit: Sätze, die sie nicht mit der Logik ihrer Beweisführung ausloten können, seien nur Geräusche ohne Inhalt. Ein richtiges Hirn wird aber geräuscharm betrieben. Saubere Datenverarbeitung ohne anmaßende Selbstermächtigung, Basis einer jeden kausalen Reinheit. Die Wissenschaftler sagen, es gäbe nichts in unserem Erleben, dass sie nicht auch durch gezielte Stimulation der entsprechenden Hirnregionen auch erzeugen könnten. Daher sei alles Täuschung, was das Subjekt betrifft, der größte Trugschluss wäre die Selbstgewissheit, die uns die Evolution so nachhaltig verpasst hat. Die einzige Realität bilde demgegenüber die Wissenschaftlerhand an der Neuronenkanone.
Warum sind die abendländischen Wissenschaften so sehr darauf aus, das Subjekt zu entmachen? Warum setzen sie es einer Entzauberung nach der anderen aus und beweisen unentwegt, das subjektives Vorstellen immer nur ein Epiphänomen des Physischen sein könne? Dahinter muss man eine Programmatik vermuten, die das Zu-sich-selbst-kommen verhindern will, weil sie es für gefährlich hält, weil es einer Emanzipation gegenüber Indoktrination und Manipulation gleichkäme.
Vielleicht liegt es an den primitiven Vorstellungen einer steuernden Schaltzentrale, die isoliert von allen anderen Dingen diesen gegenübersteht, dass die Freiheitsgrade des menschlichen Hirns so falsch beurteilt werden. Die komplexe Vernetzung ermöglicht Entscheidungen, Abzweigungen, Projektionen, Programmierung. Vorschnelle Schlüsse zugunsten einer vollkommenen Determination durch unbewusste Prozesse könnten dazu führen, das wir eine ganze Architektur einreißen, weil wir sagen, dass Existenz und Struktur des Backsteins sie in Frage stellt.
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Hirnforschung als neue „Leitwissenschaft“ – vielen Dank für die kritischen Anmerkungen dazu. – Welche Fragen stellt die Hirnforschung ganz sicher nicht? Solche, die die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen von Hirnentwicklung, Willensbildung, Verhalten und Handlungsmöglichkeiten betreffen – auch damit eignet sie sich perfekt zu einer Zementierung des Herrschenden.
Comment: Kathrin – 28. Januar 2010 @ 00:46
[…] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von Marion Popiolek und Markus Grampp, urb erwähnt. urb sagte: Geräuscharme Hirne – Freiheitsgrade des Menschen falsch beurteilt? http://tinyurl.com/ya3kufz […]
Pingback: Tweets die Hyperbaustelle » Geräuscharme Hirne | Utopie-Blog erwähnt -- Topsy.com – 29. Januar 2010 @ 02:30
@Kathrin: Natürlich weiß die Hirnforschung um die Plastizität des Gehirns, wie sehr durch Wiederholung Strukturen im Gehirn ausgebildet werden können, was fatal und auch gut sein kann, wenn man sich zum Beispiel positiv programmiert: durch schöne Vorstellungen und Erinnerungen, durch die Rezeption von Kunst, Musik, Literatur, das was man gemeinhin einen Schöngeist nennt. Die Prägung passiert auch in der Kindheit, während der man den Input ja leider sehr viel weniger steuern kann. Auch werden Handlungsmöglichkeiten angelegt, zum Beispiel Neugierde für das Nichtnaheliegende, Empathie oder Dialogfähigkeit. Für das alles hat die Neurowissenschaft noch keinen Fokus. LG urb
Comment: urb – 04. März 2010 @ 01:02