Literaturkritik scheint alles andere als einen utopischen Auftrag zu haben. Aber »sie wird immer ein Anzeiger dafür bleiben, wie es um die intellektuelle Verfassung einer Gesellschaft bestellt ist«, meint Jan Süselbeck von literaturkritik.de. Literaturkritik kann für ihn nur einen Wert haben, »wenn sie unabhängig und ‘ohne Rücksicht’ auf Verluste formuliert wird« und nichts und niemanden »beweihräuchert«. Ich möchte einen Aspekt ergänzen: die Abkehr vom Formalismus. Insofern kann ich Reich-Ranicki folgen, wenn er sagt, aus guter Literatur muss man etwas Neues über den Menschen und seine Möglichkeiten erfahren. Das sollte statt hohler Stilanalysen das oberste Qualitätskriterium für Kritiker sein, auch wenn diese Definition breite Spielräume lässt und sicher aktuell nur selten angewandt wird.
Die Kritik muss ihrem Gegenstand gerecht werden. Und Literatur gelingt es gerade durch ihre subjektiven Qualitäten, eine persönliche Nähe zum Leser, fast könnte man sagen, eine familiäre Atmosphäre herzustellen. Sie verordnet nichts autoritär, sondern sie überzeugt innerlich. Trotzdem kann sie alle Inhalte verarbeiten und reflektieren, die in ihrer Zeit von Bedeutung sind. Weshalb sollte man sie also nutzen, um aus der Wirklichkeit zu entkommen? Statt über diese Einsichten zu vermitteln und sie in Richtung Gelingen weiterzubauen?
Natürlich ist Thomas Bernhards Satz schwer zu widerlegen, dass „kein Schriftsteller die Welt je verändert hätte“. Aber Literatur schuf schon so oft ein erträgliches Klima in den Köpfen der Leser, solidarisierte, weckte Hoffnungen und neue Denkungsarten. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn etwas richtig ausgesprochen wird, ist unbeschreiblich. Die kleinen Neuroschocks, die das Gehirn durch kühne Metaphern oder außergewöhliche Einfälle erleidet, sind die einzige bewusstseinserweiternde Droge, die es wert ist, eine solche genannt zu werden.
Darüber hinaus kann Literatur ein Experimentierfeld sein, in der mögliche Modelle gesellschaftlichen Zusammenlebens auf diversen Ebenen abgecheckt werden. Die Vermittlung des Guten, Wahren, Schönen oder auch nur des Noch-nicht-Vollzogenen geschieht im literarischen Entwurf, in einer Simulation und Hochrechnung bestehender Tendenzen. Blamieren sich im literarischen Experiment die Theorien an der Praxis und die Praxis an der Theorie, kann nachvollzogen werden, dass häufig beide nichts taugen – ein altbekanntes Spiel bei Thomas Bernhard mit einem biographischen Hintergrund: Der Realitätenvermittler (österreich, dt.: Immobilienmakler) Karl Ignaz Hennetmair sorgte für die Konfrontation des Schriftstellers mit der Wirklichkeit, von der seine Texte zeugen.
Das beantwortet der Meister selbst am besten. Ernst Bloch gibt es auf DRadio zum Thema antizipierte Realität zu hören. Durch unsere zeitgenössischen Planungstechniken verlegen wir unsere Entscheidungen immer weiter in die Zukunft. Obgleich wir dazu immer weiter die Vergangenheit ausschreiten und mehr mehr Daten aus ihr zusammenballen müssen.
Bloch fordert eine Tendenzforschung, die herausfinden kann, in welche Richtung es gehen soll. Diese hat nichts mit den auf marktwirtschaftliche Aspekte fokussierte Trendaussagen à la Horx zu tun, sondern ist nur in einem dauernden »Oszillieren zwischen Theorie und Praxis« möglich.
Die Einlassungen Hassknechts (Das ZDF lernt Meinung) in der Heute-Show werfen Fragen über den Journalismus und seinen Auftrag der Meinungsbildung auf: Leistet Journalismus tatsächlich Aufklärung? Oder zementiert er Denkklischees? Unterdrückt er alles, was nicht gerade nicht im Medienfokus steht? Und sorgt dafür, dass gewisse Inhalte und Argumentationen jenseits der Denkschranke bleiben und in keine öffentliche Diskussion dringen? Warum versteckt sich Journalismus hinter bürgerlich-anständiger Neutralität, obwohl er weiß, welche Partei er ergreifen müsste?
Die Medien sind nicht besser als unsere Politiker, sie sichern ihren Status quo, und denken keinen Nanometer über die herrschenden Verhältnisse hinaus. Das macht sie utopieimpotent! Wäre schön, wenn sich hier eine Diskussion entspinnen würde.
Die letzten Tagebucheinträge aus dem Jahr 2110 handelten von asketischen Versuchen, Zukunft zu sichern. Es dürfte keine Frage sein, dass wir durch unseren Konsum die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen steuern und dass auf die Dauer nur Maßhalten und humane Energieformen uns beim Überleben helfen werden.
Der verantwortungsbewusste Umgang mit Kindern kann allerdings wohl kaum so ausschauen, dass wir uns von ihnen separieren und die Erziehung Maschinen überlassen. Das hieße das Zwischenmenschliche endgültig dem Funktionalen unterzuordnen.
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Pingback: Tweets die Hyperbaustelle » Baustellenerwachen | Utopie-Blog erwähnt -- Topsy.com – 06. Mai 2010 @ 00:00
Schön, dass es weitergeht! Utopieimpotenz ist eine schöner Begriff. Die der Medien macht sich vor allem dadurch bemerkbar, dass sie sich aufs Konservativ-Deskriptive-Triviale zurückziehen und nicht genau wissen, wie sie ihre Bezahlinhalte künftig konzipieren sollen. Die Medien liefern darüber hinaus das, was Leser und Werbekunden gerne haben möchten. Also sollten wir uns über die Zensur der Marktwirtschaft Gedanken machen und uns auch an die eigene Nase fassen.
Gruß Paul
Comment: paul – 06. Mai 2010 @ 11:05
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