Burghausen, Anfang der 90er: Der Wackersaal beginnt sich seltsam unaufgeregt und geräuschlos zu leeren. Die Besucher des Jazzfests sind an Mainstream gewöhnt – und das, was dort von der Bühne tönt, ist Musik, wie man sie eher aus Ghettofilmen kennt – elektrischer Sound, Themen, die manchmal an deformierte Kinderlieder, nur selten an Charlie Parker oder Sonny Rollins erinnern.
Der Saxofonist trägt eine Sonnenbrille und hat sichtlich Spaß daran, dass sich die Spreu vom Weizen trennt. Die bleibende Hälfte des Publikums steigert sich in die intensive Musik hinein. Sie ist rauschhaft, intellektuell, hat Protestcharakter und spielt mit Rap-, Funk- und Rock-Elementen. Das Altsaxophon spielt extrem rhythmische Soli. Die ganz eigene Phrasierungsweise spart Töne aus bekannten Themen aus und schafft neue Kombinationen, wo sie nur kann.
So klingt Musik eines Schwarzen von der South Side Chicagos, der die Musik um ihn herum von Anfang an als Teil der Community wahrgenommen hat und sie nie als getrennt von sich selbst begriff. Sie gehörte für ihn zum Leben, wie sein Arm, seine Eltern und Schwestern, die Charlie Parker, Sonny Rollins, John Coltrane, Jimi Hendrix oder Funkadelic hörten. Und er begann diese Musik als Ausdrucksmittel zu begreifen:Er interessierte sich dafür, was Stevie Wonder oder Marvin Gaye durch sie sagen wollten, also nicht die übliche Rapper-Botschaft penetrierten: »I’m the greatest, you ain’t shit!«
Rhythmus ist eine Art Methaphysik des Schönen für Coleman. Er sucht nach Rhythmen, nicht in der Pop-Musik, deren Boom-Boom-Boom er nicht leiden kann. Sondern überall: im Gang und der Rede von Menschen, in Gedichten, im Basketball, im gesamten Universum. Was er nicht rational versteht, versucht er in die Musik zu bringen. So ordnet sich das Chaos für ihn, in dem sich gerade seine Rasse in den USA befindet.
Steve Coleman hat seine eigene „Tonspur“ gefunden. Er bediente sich dazu bei vielen Musikern, eigentlich bei allen Dingen, die er beobachtete, und stellte seine Musik als Idee auch wieder allen anderen zur Verfügung. Er ist sich bewusst, dass Gier die Welt beherrscht, obwohl für ihn keine Notwendigkeit besteht, Dinge nur für sich zu besitzen. Wenn einmal Ideen miteinander geteilt und gemeinsam weiterentwickelt werden, dann wäre das der größte Fortschritt für ihn.
Aus dieser Überlegung heraus hat er M-Base gegründet: ein Akronym für »Macro – Basic Array of Structured Extemporizations«. Hierbei handelt es sich nicht etwa um einen Musikstil, sondern um einen Weg, über Kreativität in der Musik nachzudenken, oder darüber, wie Musik Erfahrung ausdrücken kann. Coleman betont, dass das Konzept nicht westlich ist und seine spirituellen Wurzeln in Afrika sucht.
M-Base-Website mit Essays und freien Downloads:
http://www.m-base.com
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vielen dank für den Post, kannte ich noch nicht!
Comment: mule – 12. Juni 2010 @ 19:57