nov, 20. November 2110Gloria sagte heute zu mir, sie sei nach der Entlobbyfizierung regelrecht aufgeblüht. Als damals einem letzten Vertreter einer hartnäckigen politischen Partei in einem basisdemokratischen Übungscamp die Machtflausen ausgetrieben worden waren und sie wusste, dass von nun an jede Abstimmung über das Terminal eine Konsequenz haben würde, da hätte sie eigentlich erst zu leben begonnen. Auch war sie von Anfang an von der Idee begeistert, dass Cypols, diese braven Politroboter, über die Auswertung der Abstimmungen wachen und ihre Umsetzung garantieren. Zu wissen, dass kein Betrug mehr möglich sei, mache es ihr leicht, sich der Mehrheit zu beugen, falls diese anders als sie selbst denke. Endlich seien diese politischen Relikte, vom Gottesurteil über die Parteien bis hin zum Personenkult, vom Tisch. »Es soll Leute geben, die die Abstimmungen und Cypols hacken und manipulieren«, bemerkte ich. Ein Miesmacher sei ich, meinte sie, überhaupt triebe ich mich zerebral zu viel in der Vergangenheit herum. |
To be continued …
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Auch ich bin wohl der Vergangenheit noch zu sehr verhaftet:
die reine Mehrheitsentscheidung als eine Lösung? Und wie funktioniert die Meinungsbildung? – Es soll Leute geben, die da durch gezielte Informationspolitik auch ohne Hacken sehr erfolgreich sind… Oder habt ihr auch dafür Lösungen gefunden, nov? Und können immer alle entscheiden, auch wenn es nur wenige von der Entscheidung direkt Betroffene gibt?
Comment: Kathrin – 23. November 2010 @ 18:22
Hallo Kathrin, natürlich konnte ich in meiner Miniatur kein wasserdichtes basisdemokratisches System darstellen. Aber grundsätzlich gehört es zu meinen „utopischen Vorstellungen“, dass jeder an den Entscheidungen mitwirken darf, die ihn betreffen. Und er sollte auch für diese Dinge Verantwortung übernehmen können, das heißt, nichts von dem komplett aus der Hand geben, was ihn selbst direkt und mittelbar angeht. Alles andere wird immer darauf hinauslaufen, dass Eliten das Sagen haben und alle anderen vor ihrer eigenen Inkompetenz geschützt werden müssen.
Auch in punkto Meinungsbildung müsste sich hier vieles ändern. Jeder sollte sich seine Meinung bilden können, und je mehr man sich mit den Dingen selbst beschäftigt, desto verantwortungsbewusster sollte die Meinung dazu auch ausfallen. Voraussetzung hierfür ist ein gesellschaftliches Leben, das jedem Freiräume für die Klärung und Diskussion von politischen Sachverhalten gewährt. Es bräuchte wahrscheinlich auch Medien, die noch weniger institutionell und noch näher an den Menschen dran sind, kurz von ihnen mitgestaltet werden.
Das mag angesichts der weit gestreuten „Dekadenz- und Brot- und Spiele-Metaphern“ idealistisch klingen, aber es ist die einzig sinnvolle Basis. Wenn man heuzutage gehört werden will, muss man sich hartnäckig und trickreich aufdrängen. Vielleicht genügt es, der Stimme des Einzelnen durch geeignete basisdemokratische Werkzeuge Gehör und Gewicht zu verschaffen. Dies war die „emotionale“ Grundstimmung von „Entlobbyfizierung“.
Sicherlich kommt es darauf an, ein System zu konstruieren, in dem gerecht geregelt ist, wer zu welchen Dingen befragt wird und an wen dann die Umsetzung des Beschlossenen delegiert wird. Das Parteiensystem kann diese Gerechtigkeit jedenfalls schon lange nicht mehr garantieren. Jeder sollte zunächst Bürger sein, der eine Entscheidung für seine Zukunft und Mitmenschen trifft. Der Lobbyist, der seine kleine, aber einflussreiche Interessensgruppe vertritt und die menschliche und übergreifende Perspektive verkauft, sollte ausgedient haben.
Comment: nov – 25. November 2010 @ 11:16
Hallo nov, danke für deine ausführliche Antwort!
Mitwirkung und daher auch Mitdenken, -planen, -verändern für alle gehört auch zu meinen „utopischen Vorstellungen“: dass alle Einzelnen dann erst richtig zu leben anfingen, wie oben beschrieben, finde ich sehr überzeugend und spannend.
Zugleich aber denke ich, ein Abbau dessen, was ungleich verteiltes Wissen, Expertentum erst gefährlich macht, wäre ebenso nötig wie eine allgemeine Aufklärung. Wenn der Experte für, sagen wir, Energiegewinnung selbst keinen, neben seine wissenschaftliche Tätigkeit gestellten, interessierten Standpunkt hat (nämlich Geldverdienen, Marktanteile sichern etc.), dann kann auch er/sie Entscheidungen treffen, die ebenfalls ‚entlobbyfiziert‘ sind.
Das soll heißen, die pure Existenz von z.B. Expertengremien, die komplexere, etwa technische Entscheidungen treffen – in aller Transparenz und mit basisdemokratischen Einspruchsmöglichkeiten – ist nicht unter allen Bedingungen gefährlich. – Aber das ist mit deiner Idee eines Systems, das gerecht regelt und delegiert ja auch schon gesagt. Zugespitzt formuliert: Die Lobby ist letztlich nicht die Gefahr, sondern die von ihr vertretenen rein privatwirtschaftlich orientierten Interessen.
Comment: Kathrin – 25. November 2010 @ 11:49
Wäre der Begriff Lobby nicht so verbraucht und insgeheim mit dem Begriff der Korruption verbunden, könnte man ja nichts dagegen sagen, dass jemand seine Interessen vertritt und dabei versucht, Medien und öffentlichen Meinung zu beeinflussen. Das sehe ich wie ihr beiden, der Standpunkt, von dem aus die Interessen vertreten werden, muss sich ändern! Oder anders herum: Die meisten müssten sich über ihre eigentlichen Interessen richtig klar werden. Posten oder Boni sichern ist in den seltensten Fällen der letztgültige Zweck.
Comment: urb – 25. November 2010 @ 15:27
Hm, wo Wachstum der offizielle Gesamtzweck ist, sind die Einzelzwecke Posten und Boni, genauso wie ‚Gesundschrumpfen‘ einer Firma, Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung und auch wie die neulich diskutierten Selbstzurichtungen für den Arbeitsmarkt doch genau die absolut gültigen, letztgültigen Zwecke.
Es müsste sich doch also der Gesamtzweck ändern, zugleich mit den meisten, die du ansprichst, urb, die ihre Einzelinteressen darin für gut aufgehoben halten!?
Comment: Kathrin – 26. November 2010 @ 00:43
Klar, Kathrin, sehe ich nicht anders! Was ich meinte: Dem Einzelnen müsste klar werden, dass er durch die Bestätigung des „offiziellen Gesamtzwecks“ – eine diesem entsprechende Denk- und Handlungsweise – sich und der Gesellschaft nicht nützt, sondern dazu beiträgt, maximale Unordnung auf allen Ebenen zu schaffen. Wenn es bei vielen Einzelnen angekommen ist, kann es unter Umständen gelingen, den „Gesamtzweck“ zu ändern. Den Aufstieg der Grünen zur Volkspartei werte ich zum Teil als Effekt eines solchen Bewusstseinswandels, auch wenn der Erfolg hauptsächlich mit der Hyperanpassung der Partei zu tun hat. Der „letztgültige Zweck“, das Überleben der Menschheit unter humanen Bedingungen, geht jedenfalls mit einer sozialen, ökologischen und empathischen Erneuerung einher (siehe hier auch Artikel über Rifkin).
Comment: urb – 26. November 2010 @ 10:35
Hallo in die Runde: Aus dem Artikel oben lese ich noch eine andere Gefahr: Das Netz ist sozusagen ein Simulacrum, in dem sich jeder basisdemokratisch austoben darf. Aber die Entscheidungen werden an anderer Stelle getroffen, gehackt oder manipuliert. Sie sind legitimiert, weil sie scheinbar alle Bürger gemeinsam getroffen haben. In Wirlichkeit befanden sie sich in einer basisdemokratischen Matrix, in den ihnen ihre Mündigkeit vorgespielt wurde. Schauderhafte Vorstellung!
Comment: paul – 26. November 2010 @ 13:39
Hallo an alle, vielleicht bin ich ja nur zynisch gestimmt, aber Pauls Beschreibung scheint mir genau (mit pointierter Übertreibung natürlich) das zu treffen, was hier oft gespielt wird: eine Demokratie-Matrix. Wir können die Grünen wählen – und ich denke auch, es stimmt, dass es von einem Bewusstseinswandel zeugt, dass sie erfolgreich sind, oder vielleicht ja auch nur von den stärker werdenden äußeren Anzeichen der Notwendigkeit ökologischen Denkens -, das heißt aber noch lange nicht, eher im Gegenteil, dass diese, wenn sie gewählt wurden, nach ihren Grundsätzen handeln können. Dem stehen ja, wie von nov beschrieben, die Lobbys entgegen…
Comment: Kathrin – 26. November 2010 @ 16:26
Hallo Kathrin, was meinst du mit „hier“? Europa? Deutschland? Das Netz? Die Blogosphäre? Die Hyperbaustelle? Auch wenn ich dir grundsätzlich Recht gebe, sehe ich doch auch positive Ansätze: Im Internet haben wir immerhin die Möglichkeit, uns auszutauschen, Meinungen zu entwickeln und zu zeigen, dass andere Meinungen und Weltbilder vorhanden sind. In der Demokratie müssen sich auch hintergründige Machtstrategien mit einem öffentlichen Bewusstsein auseinandersetzen – das ist zumindest noch besser, als der vollkommenen Willkür ausgesetzt zu sein oder einem Leitbild zu folgen, das von oben herab verordnet wurde.
Comment: urb – 29. November 2010 @ 10:49
Das stimmt! – Deswegen ist ja auch die Debatte hier (in der Hyperbaustelle) so positiv! Das obige ‚hier‘ war: in den demokratischen politischen Systemen, wie man sie kennt, ob aus Deutschland, Europa oder den USA. Aber auch ich sehe das Immerhin von Meinungsaustausch und auch (gewisser) Transparenz, demokratischen Überprüfungsmöglichkeiten, institutionell oder offen, wie hier (im Netz).
Comment: Kathrin – 29. November 2010 @ 12:16
@Kathrin: Verständigung auf Augenhöhe, gut! Aber allzu große Hoffnungen braucht man sich nicht zu machen, dass das Netz demokratische Grundfesten sichern wird. Vor allem nicht, wenn sich die Kommunikation dort selbst genügt, als Ventil der Übergangenen sozusagen, oder im Narzissmus der Schreiber. Auf sich aufmerksam machen, heißt vielleicht auch nur ausrechenbar für Strategien anderer zu sein. Und die Aufmerksamkeit, die Blogs im Durchschnitt erfahren, erfüllt nicht den Tatbestand der öffentlichen Diskussion. Aber wo den Hebel ansetzen? Kann man sich doch über die üblichen Organe nicht orientieren, ohne sich komplett anzupassen.
Comment: nov – 01. Dezember 2010 @ 10:29
[…] Diskussion bei »Entlobbyfizierung« warf wieder einmal die Frage auf: Kann das Netz Demokratie aufbauen und sichern helfen? Paul und […]
Pingback: Hyperbaustelle » Herbstlicher Hypertext | Utopie-Blog – 05. Dezember 2010 @ 12:26