Hyperbaustelle

Sündenbock und Personenkult

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Seit Wulf aus dem Amt gejagt wurde, können wir uns entspannt zurücklehnen und müssen uns nicht mehr mit dem System beschäftigen. Wir genießen die Aufführung des neuen Helden. Aber nichts hat sich verändert und nichts ist in Ordnung. Der Personenkult bildet die Oberfläche unserer Gesellschaft. Die sieben Achtel des Eisbergs darunter bleiben davon unberührt. Nur die Wasserlinie kräuselt sich.

The Scapegoat von William Holman Hunt

The Scapegoat von William Holman Hunt

Ein altes Ritual, aus der Bibel bekannt, wird damals wie heute begangen: „Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen.“ (3. Buch Mose)

An diesem Ritual des „Sündenbocks“ wird deutlich, wie hilfos die Gemeinschaft ihren eigenen Systemfehlern gegenübersteht. Statt Misstände zu beseitigen, deligieren die Priester die Problemlösung an ein Ritual. Das mag in der konkreten Situation jeden Einzelnen mitreißen, aber mit Sicherheit keinerlei langfristige oder substanzielle Auswirkung mit sich bringen. Im Gegenteil: Das Ritual stabilisiert das System, weil es eine Scheinhandlung inszeniert. Die Gemüter beruhigen sich, weil davon ausgegangen wird, dass etwas unternommen wurde.

Der Anthropologe René Girard nannte das den „Sündenbockmechanismus“ (Scapegoating). Nach Girard wird der Sündenbock in die Wüste geschickt, wenn die Gemeinschaft innerlich zerrissen ist oder sich von einer Katastrophe bedroht fühlt. Die Verbindung zwischen dem Missstand und dem willkürlich ausgewählten Sündenbock hat kausalen Charakter, natürlich nicht im soziologischen, sondern nur im semiotischen Sinn. Sie ist virtuell, aber emotional hervorragend nachvollziehbar. Nach der medienaffinen Vertreibung des Sündenbocks fühlt sich die Gemeinschaft wieder geeinigt und stabilisiert.

Der Sündenbock spricht also das System frei. Sein Abgang hat die Aura des Neuanfangs. Tatsächlich aber wechseln nur die unwesentlichen Oberflächen, Muster, die ohnehin austauschbar geworden sind. In der Politik liefert der Personenkult auf diese Weise die Abwechslung im verkrusteten System. Neue Gesichter ersetzen Visionen und vertuschen den längst fälligen Systemwechsel. Die Ruhe wird im System durch den Sündenbockmechanismus immer wieder hergestellt, ohne dass sich auch nur das Geringste geändert hätte. Deshalb mein klares Votum: Politische Entscheidungen sollten niemals von Personen abhängig gemacht werden, schon gar nicht von solchen, die sich für alternativlos halten. Sie sollten über die Programme, Visionen und Handlungen im Hinter- und Untergrund beurteilt werden.

 

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 18. Oktober 2013 um 14:46 Uhr von urb veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Politik / Gesellschaft abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen. Du hast die Möglichkeit einen Kommentar zu hinterlassen, oder einen Trackback von deinem Weblog zu senden.

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7 Comments »

  1. Schön, mal wieder von Dir zu lesen! Guter Artikel.

    Comment: Thorsten Roggendorf – 18. Oktober 2013 @ 22:34

  2. Danke, Thorsten! Hoffe, künftig wieder mehr Zeit zu haben …

    Comment: urb – 22. Oktober 2013 @ 14:21

  3. Stimmt, lange nichts mehr gelesen! Freut mich, dass du künftig wieder mehr bloggen willst. Zum Thema: ja, um die Sache geht es viel zu wenig in der Politik. Warum Merkel ihren persönlichen Bonus noch nicht aufgebraucht hat, kann doch eigentlich niemand verstehen, oder? Wie Umfragen gezeigt haben, kann man scheinbar mit der Arbeit der Regierung unzufrieden sein, aber trotzdem der Meinung sein, dass die Regierungschefin ihre Sache sehr gut macht. Das halte ich für reichlich schizophren!

    Comment: paul – 22. Oktober 2013 @ 14:33

  4. Genau, Paul, aber auch ein Personenwechsel (Kanzler Steinbrück) hätte nicht viel Änderungen gebracht, da sich CDU und SPD im Grunde nur sehr wenig unterscheiden. Die gerade stattfindenden Koalitionsverhandlungen sind daher der Schmierenkomödie sehr verwandt: Es werden Gegensätze inszeniert, die letztlich nicht wirklich beigelegt werden müssen, weil sie gar nicht bestanden haben.

    Comment: urb – 25. Oktober 2013 @ 11:13

  5. Freut mich auch, dass die Hyperbaustelle wieder weiter gebaut wird! Vielen Dank für den Artikel, ich stimme zu. Diese fortwährende Inszenierung der Oberfläche ist es auch, was Zeitungslektüre und Nachrichten-Schauen so ermüdend macht – oder eben so wirksam ablenkend von den wirklichen Problemen und Gegensätzen.

    Comment: Kathrin – 31. Oktober 2013 @ 21:56

  6. Danke Kathrin! Ja, du hast recht: intellektuell ermüdend, sinnlos und gleichzeitig ist es so spannend, wie sich Hass und Häme durch persönliche Schuldzuweisungen erzeugen lassen.

    Comment: urb – 03. November 2013 @ 23:59

  7. Die Politik in Deutschland ist eine reine Machterhaltungsmaschine.
    Der Amtseid, nur das Beste fuer das Volk zu tun der eigentliche Witz dabei.
    Politik in der westlichen Welt bedeutet Stimmenvieh durch dubiose Versprechen fuer sich zu gewinnen, dabei sind die Personen austauschbar und zahlen tut der Staat und Steuerzahler, der sich viele Versprechen eigentlich gar nicht leisten kann.
    Alle westlichen Nationen sind durch Ihre Versprechen bis zum Dach verschuldet und die Dekadenz in der wir leben, dafuer muessen alle noch bezahlen.
    Im Falle mal was schieflaeuft wird der Suendenbock gesucht und in die Wueste geschickt. Das System bleibt unberuehrt.
    Visionen sind nur Eigeninteresse, was wieder nur Stimmenvieh bringen soll und die Macht erhaelt. Dabei sind alle Politiker, egal welcher Partei, austauschbar
    Unpopulaere, aber wichtige Entscheidungen werden daher nicht getroffen.
    Ein Systemwechsel wird aufgrund eines dramatischen finanziellen Defaults speziell in der EU kommen. Viele in der Hochfinanz spekulieren auf den Zusammenbruch Frankreichs.
    Das wird die Zeit des Neuanfangs.
    Der schnoede Mammon wird es richten.
    All das schreibe ich Euch aus China, wo ich als Franke seit 15 Jahren lebe.

    Comment: Thomas – 29. November 2013 @ 11:51

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