Ich bin müde, unendlich müde. Nicht nur so ein bisschen „nach-getaner-Arbeit-versöhnt“-müde, sondern über viele Wochen übernächtigt. Mein Denken ist mir zum Ballast geworden. Die fokussierten Gegenstände erscheinen mir fahl, oberflächlich, zweidimensional. Der Fokus, dieses Wunder einer ausgeschlafenen Gegenwart, gehört jenen, die sich nicht ganze Nächte mit dem beschäftigt haben, was sie gerne tun würden, es tagsüber aber nicht schaffen. So sitze ich da und überlasse mich den intensivsten Forderungen meines Umfelds. Ich reagiere verzögert, bin gänzlich ohne Impulse und gestalte nichts mehr. Um mich herum türmt sich eine Unmenge liegen gebliebener Aufgaben, die ich weder abarbeiten noch canceln kann und will. Beschreibe ich hier eine schwerwiegende psychische Störung? Nein, nur den normalen Zustand eines Menschen unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft.
Wie anders könnte das Leben sein, wenn ich meine tägliche Energie nicht mir vollkommen entfremdeten Themen widmen müsste? Wenn ich abends zufrieden ins Bett steigen und auf mein Tagwerk zurückblicken könnte. Wenn ich die fehlende Befriedigung nicht nächtens durch den Konsum von technikvermittelten Inhalten kompensieren müsste? Wenn ich früh morgens aufwachen würde, meinen Träumen nachhängen und sie als Vorlage für tägliche Aufgaben nehmen könnte? Der Schlaf ist unsere letzte unausgebeutete Ressource, der Traum, die einzige Möglichkeit, bei uns zu sein. Jonathan Crary, Professor für Moderne Kunst und Theorie an der Columbia-Universität in New York, beschreibt in seinem Buch »24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus«, wie die Wirtschaft versucht, diese letzte Ressource des Menschen anzuzapfen. Die Lektüre veranschaulicht, dass eine schauderhafte Dystopie längst zur Realität geworden ist.
Warum muss alles 24 Stunden geöffnet sein? Warum wird an Medikamenten gearbeitet, die das Schlafbedürfnis aufheben? Warum ist Hyperaktivität zum belobigten Verhaltensmuster geworden? Vielleicht wäre es angeraten, Ruhezeiten zu verordnen, die auch Energiesparzeiten sind, psychische Rehabilitationsräume, Spiegel der Reflexion und Füllhörner der Kreativität. Schlaf ist alles andere als verlorene Zeit. In ihm verwandeln wir uns stets aufs Neue. In ihm erfahren wir, dass unsere Existenz schattenhaft ist und wie Schatten wechseln kann. Dass jedes Aufwachen mit der Chance eines neuen Ichs verbunden ist. Der Schlaf ist des Todes Bruder … Der Tagtraum ist in diesem Sinne vielleicht der ganz kleine Bruder, der einen plötzlich an der Hand nimmt und von der Obsession entbindet, ständig alles aufsaugen und in Aufmerksamkeit erstarren zu müssen. Von dieser Kinderhand geleitet, wird man überrascht sein, was für eine Unmenge an Ideen in einem schlummern.
Zur Utopie des Schlafes siehe auch:
« 2115 – Sich wachträumen – 2116 – Matrixtest »
No comments yet.